Russisch besetzte Gebiete der Ukraine: Was Putins Kriegsrecht bedeutet
In russisch besetzten Gebieten der Ukraine sind Bürgerrechte jetzt auch offiziell außer Kraft. In Russland häuft sich derweil die Kritik am Krieg.
Für die Bevölkerung der jüngst von Russland annektierten Gebiete der Ostukraine gilt ein doppeltes Kriegsrecht. Sofort nach dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar hatte deren Präsident Selenski über das gesamte Gebiet der Ukraine Kriegsrecht verhängt. Putin tat es Selenski nun gleich und verkündete dieses über die jüngst annektierten Gebiete der Ostukraine.
Während es in Russland eine strafbare Handlung ist, die „Sonderoperation“ als Krieg zu bezeichnen, hat nun ausgerechnet Putin das No-Wort von Krieg in den Mund genommen. Faktisch änderst sich durch Putins Ausrufung des Kriegsrechts in Cherson, den Gebieten Saporischschja, Donezk und Luhansk wenig, waren auch schon davor die bürgerlichen Freiheiten in diesen Militärdiktaturen eingeschränkt.
Putin legitimiert mit seinem Erlass nun willkürliche und angeblich freiwillige Evakuierungen, Ausgangssperren, Einschränkungen der Versammlungs- und Bewegungsfreiheit, Tätigkeitsverbote für politischer Parteien und Vereinigungen. Nun können Bürger dieser Gebiete zu Zwangsdiensten verpflichtet werden, müssen jederzeit mit Enteignungen von Wohnraum oder Fahrzeugen rechnen.
Das Kriegsrecht legitimiere Plünderungen und Raub in den besetzten Gebieten, kommentierte Michailo Podoljak, Berater Selenskis. Für die Ukraine ändere sich dadurch nichts. Mit dem Kriegsrecht in den annektierten Regionen der Ukraine bereite man eine „Massendeportation der ukrainischen Bevölkerung in depressive Gebiete Russlands vor“. kommentierte Oleksiy Danilov vom Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat Putins Ukas. Und der Leiter der regionalen Verwaltung von Cherson, Jaroslaw Januschewitsch, forderte die örtliche Bevölkerung auf seinem Telegram-Kanal auf, die russischen Evakuierungsaufrufe zu ignorieren. Russland wolle die Bevölkerung als „menschliche Schutzschilde“ benutzen, so Januschewitsch.
Fluchtbewegung aus Cherson?
Für Kolumnist Iwan Jakowyna von nv.ua ist es der Versuch Russlands, Soldaten unter dem Deckmantel einer Evakuierung eine Flucht aus Cherson, das Russland offensichtlich militärisch nicht mehr halten könne, zu ermöglichen. „Wenn man von den Satelliten aus sieht, wie eine ganze Kolonne von Soldaten mit Schiffen und Fähren vom rechten auf das linke Ufer evakuiert wird, wird man natürlich mit Himars-Raketen zuschlagen. Wenn man aber über Satellit sieht, dass die Kolonne zur Hälfte aus Soldaten und zur anderen Hälfte aus Zivilisten besteht, wird man nicht auf eine solche Fähre schießen.“
Auch in den von Kiew kontrollierten Gebieten werden Bürgerrechte weiter eingeschränkt. Das Portal strana.news berichtet von einem Gesetzentwurf, der dem Inlandsgeheimdienst SBU weitreichende Rechte einräumen soll. So soll er ohne Gerichtsbeschluss Telefone abhören, Mailverkehr ausspähen und Hausdurchsuchungen vornehmen können.
Unterdessen berichtet der Telegram-Kanal des russischen Verteidigungsministeriums von der Tötung von sechs ukrainischen Militärs einer „Sabotageeinheit“. Russland setzt seine Angriffe auf das ukrainische Stromnetz fort. Praktisch täglich wurden in den vergangenen sieben Tagen Einrichtungen des ukrainischen Stromnetzes angegriffen.
Freisprüche für DemonstrantInnen
In der Nacht zum Donnerstag hatte Russland nach Angaben des Gouverneurs Vitali Kim die Stadt Nikolaev mit Drohnen angegriffen. Dabei sei auch eine Schule beschädigt worden.
Unterdessen reißt die Kritik an der „Sonderoperation“ in Russland nicht ab. In einer Talkshow im staatlichen Fernsehen kritisierte der Oppositionspolitiker Boris Nadeschdin den Krieg. In Tjumen sprach ein Gericht laut Telegramkanal „Autonomes Handeln“ einen Mann frei, der ein „Stoppt den K***g“-Plakat hochgehalten hatte.
Und in St. Petersburg wurde die Aktivistin Alisa Druschina zu fünf Tagen Arrest verurteilt, weil sie ein Transparent mit der Aufschrift „Der Zinksarg ist schon in eurer Straße“ hochgehalten hatte. In Kursk beklagten ein Dutzend Frauen in einer Videobotschaft an die Öffentlichkeit, dass ihre Männer, Söhne und Väter seit der Einberufung spurlos verschwunden seien.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich