piwik no script img

Rund um Neue Wache: Demorecht außer Kraft

■ Polizei duldete am Sonntag bei der Zeremonie keine Transparente / Historisches Foto zerrissen und zertrampelt

Es geschah am Sonntag bei der Umwidmungszermonie der Neuen Wache. Hinter der Absperrung auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig steht inmitten der Demonstranten ein Mann. Er hält ein historisches Foto in die Höhe. Es zeigt einen SS-Mann, der an einem Massengrab in der Sowjetunion eine Frau erschießt, die ihr Kind umklammert. Unter dem Foto befinden sich nur zwei Worte: „Alles Opfer?“ Der Mann mit dem Transparent demonstriert ganz still für sich allein. Plötzlich wird er von mehreren Zivilbeamten gepackt. Sekunden später tritt eine Gruppe von Polizisten in grünen Kampfanzügen auf den Plan. Sie zerren dem Mann das Transparent weg, reißen es in Stücke, werfen diese auf den Boden und trampeln mit ihren Stiefeln darauf herum. Dann führen sie den Mann ab.

Die Darstellung beruht auf den Angaben des Fotografen Henning Langenheim. Er hat den Vorfall minutiös mit der Kamera festgehalten – obwohl ihn ein Zivilbeamter massiv daran zu hindern versuchte. Der Film, von dem hier zwei Bilder veröffentlicht sind, liegt der taz vor. Der Fotograf betont, daß der Mann vollkommen friedlich sein Demonstrationsrecht wahrgenommen hat. Daß Polizisten „an so einem Tag so ein Plakat zerreißen“, findet Langenheim geradezu „infam“. Die Beamten hätten sich „exakt so verhalten“, wie es die Stasi bei ähnlicher Gelegenheit getan habe.

Von der Polizeipressestelle war zu dem Vorfall gestern keine Stellungnahme zu erhalten. Wegen der Kürze der Zeit sei es unmöglich, „auf jeden Einzelfall einzugehen“, so Polizeisprecher Mollenhauer. Seine Recherchen beim Einsatzleiter hätten lediglich ergeben, daß die Beamten am Sonntag „keine demonstrativen Aktionen“ in der Umgebung der Neuen Wache zulassen sollten. Auf die Frage, wie dies bekanntgemacht worden sei, antwortete Mollenhauer: Die Leute seien bei den Vorkontrollen darauf hingewiesen worden. Mehrere Transparente seien gegen Ausgabe einer Quittung „sichergestellt“ worden. Daß Plakate „bei der Sicherstellung beschädigt“ wurden, sei nur in einem Fall bekannt. „So was kann vorkommen“, sagte der Polizeisprecher. „Ich gehe davon aus, daß der Betroffene Widerstand geleistet hat.“ Daß es sich dabei um den besagten Fall handele, könne er jedoch nicht bestätigen.

Am U-Bahnhof Französische Straße hatten Beamte ein Palästinensertuch und ein Transparent mit der Aufschrift „Neue Wache, Entsorgungspark deutsche Geschichte“ beschlagnahmt – ohne eine Quittung auszustellen. Als die Betroffenen, ein Buchhändler und ein Justizangestellter, auf einer Quittung bestanden, wurden sie kurzerhand in eine Polizeiwanne geladen. „Dort saßen schon zwei Männer, die wegen einer Trillerpfeife und Flugblättern festgenommen worden waren“, so der Justizangestellte zur taz. Erst anderthalb Stunden später sei man freigelassen worden. Zur Erklärung hätten die Beamten gesagt: „Wegen des Staatsakts an der Neuen Wache ist das Demonstrationsrecht im Bezirk Mitte außer Kraft gesetzt.“ Plutonia Plarre

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen