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Archiv-Artikel

Rüttgers war kein Betriebsunfall

NRW-SPD-Chef Jochen Dieckmann geht auf Ursachenforschung für das Seuchenjahr 2005: Schuld am Verlust der Macht in NRW war die Bundespolitik, die überraschend starke CDU und das Problem, sozialdemokratische Reformen richtig zu vermitteln

„Die Linkspartei ist für uns kein Partner. Bei ihr verhält es sich wie mit einem Fahrradfahrer, der plötzlich stehen bleibt: Er fällt um“

INTERVIEW KLAUS JANSENUND MARTIN TEIGELER

taz: Herr Dieckmann, war das Jahr 2005 das schwierigste in der Geschichte der NRW-SPD?

Jochen Dieckmann: Es war ein sehr schwieriges Jahr. Mit Superlativen bin ich zurückhaltend.

Sie haben Gerhard Schröder verloren, Franz Müntefering verloren – und nach 39 Jahren die Macht im Land NRW. Geht‘s schlimmer?

Der NRW-Wahlabend am 22. Mai war sicher ein Tiefpunkt. Dennoch bin ich damit zufrieden, wie wir den Bundestagswahlkampf bewältigt haben. Und auch das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen kann sich aus unserer Sicht sehen lassen.

War der 22. Mai also nur ein Betriebsunfall?

Es gibt nur einige wenige in der SPD, die den 22. Mai als Betriebsunfall bezeichnen. Ich trete dem jedenfalls entschieden entgegen. Die Niederlage war kein Betriebsunfall, sondern der Schlusspunkt einer Entwicklung, die 1995 mit dem Verlust der absoluten Mehrheit für die NRW-SPD eingesetzt hat. Es hat danach keine systematische Ursachenanalyse gegeben.

Welche zentralen Fehler hat die SPD 2005 gemacht?

Aus meiner Sicht haben bundespolitische Vorgänge für ein atmosphärisches Stimmungstief der SPD gesorgt. Ich denke an die Umstände, die dazu geführt haben, dass Heide Simonis ihr Amt als Ministerpräsidentin von Schleswig- Holstein verloren hat. Ich denke aber auch an die Visa-Affäre und das Überschreiten der Fünf-Millionen-Marke bei den Arbeitslosenzahlen. Hier hat es auch erhebliche Defizite bei der Kommunikation gegeben.

Also war das Pech in der Bundespolitik schuld?

Das ist nur ein Teil der Erklärung. Wahr ist auch: Eine große Zahl von Menschen hatte nicht mehr das Vertrauen in die Fortsetzung der rot-grünen Koalition in NRW. Und die CDU hat deutlich höher mobilisieren können, als wir das für möglich gehalten haben. Außerdem haben wir Jürgen Rüttgers nicht ausreichend gestellt. Der Mann war und ist der Meister des Ungefähren.

Wahlforscher sagen: Die Menschen in NRW fühlten sich von der SPD schlecht regiert. Sind Sie mit den Resultaten Ihrer Politik etwa an den Schulen oder an den Unis zufrieden?

Ich glaube, dass wir gerade in der Hochschulpolitik eine gute Arbeit gemacht haben. Mit der Autonomie der Hochschulen waren wir schon weiter als alle anderen Bundesländer. Wir müssen uns auch in der Schulpolitik nicht verstecken. Wir haben das Personal in erheblichem Umfang verstärkt. Und wir haben die Ganztagsgrundschule in Nordrhein-Westfalen eingeführt und ihr zum Erfolg verholfen.

Warum haben die Wähler das dann nicht honoriert?

Vielleicht haben wir auch auf der Landesebene den Fehler gemacht, die Reformen nicht ausreichend zu vermitteln. Das hat der neue SPD-Vorsitzende Matthias Platzeck für den Bund genauso festgestellt. Wir stehen beide für einen eher erklärenden Politikstil. Wir müssen die Menschen mehr als bisher mitnehmen.

Kann der Personal- und Stilwechsel von Müntefering zu Platzeck dabei helfen, oder überwiegt in der NRW-SPD noch die Münte-Trauer?

Wir hätten uns gewünscht, dass uns Münteferings Rückzug vom Parteivorsitz erspart geblieben wäre. Aber wir haben Franz Müntefering auch nicht verloren, sondern als starken Frontmann in der Bundesregierung behalten. Jetzt vergießt die NRW-SPD nicht nostalgisch Tränen, sondern blickt nach vorne.

Bleibt die Partei unter Platzeck auf Reformkurs?

Eindeutig ja.

Welche neuen Themen muss die SPD besetzen?

Wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich hat sich unser Land stark gewandelt. Demografischer Umbruch, Globalisierung und Wissensgesellschaft dürfen aber nicht nur als Bedrohung verstanden werden. Wir wollen die Chancen deutlich machen, die in der Veränderung liegen und mehr Möglichkeiten für mehr Menschen eröffnen: Im Bereich der Bildung, auf dem Arbeitsmarkt, in der Familienpolitik oder im Bereich Forschung und Entwicklung. Sozialdemokrat sein heißt gestalten wollen, für Bewegung sorgen, Fortschritt, Kreativität und Neugier fördern. Wir müssen auch intensiver mit Kirchen, Sportvereinen und Bürgerinitiativen ins Gespräch kommen.

Warum erst jetzt?

Natürlich hat es immer Gespräche gegeben. Aber ich mache mir keine Illusionen: Wer in den vergangenen Jahren mit Jochen Dieckmann gesprochen hat, hat nicht vorrangig mit dem Sozialdemokraten sprechen wollen, sondern mit dem Finanzminister, dem Herrn der Kassen. Der Blick auf die Sozialdemokratie ist jetzt befreit von der Regierungsverantwortung. Und wir stellen fest: Die Leute wollen jetzt echt mit den Roten reden.

Sie haben doch weiter Regierungsverantwortung im Bund. Meckern die Menschen bei Ihnen nicht über Dinge wie die Mehrwertsteuererhöhung?

Es gibt auch viel Zuspruch: Die Leute verstehen, dass wir mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer verhindern, dass es woanders noch größere Einschnitte gibt. Die Familien- oder die Forschungspolitik haben einen hohen Stellenwert für uns. Aber ohne zusätzliche Einnahmen gibt es hier erhebliche Finanzierungsengpässe. Ein schlichter Sparkurs hilft jedenfalls nicht weiter, wenn man in die Zukunft investieren will. Wir wollen konsolidieren und gestalten.

Sie haben sich für einen „aktiven“ Staat ausgesprochen, die Neue-Mitte-SPD sprach immer von einem „aktivierenden“ Staat. Rückt die Partei mit Ihnen wieder nach links?

Links und Rechts ist in diesem Zusammenhang das falsche Begriffspaar. Wir wollen nicht hinnehmen, dass wirtschaftliches Denken allein die Politik bestimmt. Ich habe bewusst von einem aktiven Staat gesprochen - allerdings nicht im Gegensatz zum aktivierenden Staat, sondern neben ihm. Der aktivierende Staat war ein Weg weg von den etatistischen Wurzeln der SPD. Dahin will ich natürlich nicht zurück, aber mit Blick auf Naturkatastrophen wie in New Orleans ist auch klar: Der Markt alleine ist überfordert, wenn es um den Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter geht. Der Markt braucht Ergänzung und Korrektur, den aktiven Staat - auch in der Arbeitsmarktpolitik und der Schulpolitik. Das Ergebnis der Bundestagswahl ist eine klare Absage an den Neoliberalismus und bekräftigt das Modell des europäischen Sozialstaats. Zum dritten Mal in Folge gab es keine Mehrheit für Schwarz-Gelb.

Die Linkspartei ist Teil dieser Mehrheit. Muss die SPD darauf nicht stärker reagieren?

Die SPD ist 142 Jahre alt und muss ihren eigenen Kurs bestimmen. Wir sind die linke Volkspartei. Wir schielen nicht taktisch auf andere.

Glauben Sie an eine Annäherung zur Linkspartei?

Im Sinne von links als emanzipatorisch und fortschrittlich ist der Name Linkspartei ein einziger Etikettenschwindel. Die Partei und ihre Protagonisten stehen in Wahrheit für Strukturkonservatismus. Sie sind gefangen im Denken einer längst vergangenen Zeit. Mit ihnen verhält es sich wie mit einem Fahrradfahrer, der plötzlich stehen bleibt: Er fällt um. Die Linkspartei ist für uns kein Partner.

Neben der Linkspartei: Hat die SPD nicht auch das strategische Problem, gleichzeitig Verantwortung im Bund zu tragen und im Land zu opponieren?

Die richtige Reihenfolge wäre, diese Frage zuerst der CDU und der FDP zu stellen. Ich bin schon gespannt, wie sich Herr Westerwelle verhält, wenn NRW im kommenden Jahr einen Haushalt jenseits der Verfassungsgrenze vorlegt. In Berlin will Westerwelle dagegen klagen, wer weiß, wie sich seine Düsseldorfer Parteifreunde dann positionieren werden. Die SPD kann klar trennen: Wir stehen zur Koalition im Bund. Im Land werden wir aber glasklar unseren Oppositionsauftrag wahrnehmen. Anlass gibt es genug: Unter anderem die angekündigte Abschaffung der Grundschulbezirke, die Regierungsvorlage zu Studiengebühren, die ein Bruch des Wahlversprechens ist. Das ist schon ein schwacher Start der neuen Landesregierung.

Bis 2010 müssen Sie jetzt in NRW opponieren. Heißt der Kandidat bei der nächsten Landtagswahl dann Dieckmann? Traut sich der trockene Ex-Finanzminister zu, als Wahlkämpfer in Bierzelten zu reden und kleine Kinder zu streicheln?

Ich bin Vorsitzender des größten Landesverbandes der SPD. Das ist ein schönes Amt.