Rüttgers auf dem CDU-Landesparteitag: Der neue Oppositionsführer
NRW-Chef Jürgen Rüttgers gibt sich sozialdemokratischer denn je - und wirft der Kanzlerin mangelnde Kenntnis des rheinischen Kapitalismus vor.
Bayerns Ministerpräsident Günther Beckstein (CSU) verstärkt seine Angriffe auf Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). In einem Interview betonte er, die CSU werde sich "weder der Kanzlerin noch ihrer Partei unterwerfen". Am 28. September wird in Bayern gewählt, und nach derzeitigen Umfragen könnte die CSU die absolute Mehrheit verfehlen. Im Wahlkampf könne man nicht auf die "Nächstenliebe seitens unserer Schwesterpartei vertrauen". Es brauche keinen "Wahlsieg von Merkels Gnaden". Zuvor waren (Wahlkampf-)Forderungen der CSU nach Steuersenkungen und einer Wiedereinführung der Pendlerpauschale auf Ablehnung der CDU-Spitze gestoßen. Über Becksteins Äußerungen zeigt sich CSU-Chef Erwin Huber verärgert. Es sei "nicht besonders glücklich, Merkel direkt anzugreifen", habe er laut Spiegel bei einer Präsidiumssitzung gesagt.
DORTMUND taz Nettigkeiten für die Kanzlerin gehören offenbar nicht zu den Dingen, die sich der Ministerpräsident für diesen Tag vorgenommen hat. "Bildung ist nicht der Kern der sozialen Marktwirtschaft", ruft Jürgen Rüttgers in die Dortmunder Westfalenhalle. "In diesem Land gibt es Menschen, denen es nicht gelingt, durch mehr Bildung auch mehr Wohlstand zu erlangen", fährt der nordrhein-westfälische Ministerpräsident vor den Delegierten des CDU-Landesparteitags fort. "Auch um diese Menschen müssen wir uns kümmern."
Ein Hieb gegen Angela Merkel. Zwei Tage zuvor hatte die Kanzlerin zum Jubiläum der sozialen Marktwirtschaft die "Bildungsrepublik Deutschland" ausgerufen. Folgt man Rüttgers, dann hat die Ostdeutsche das Thema verfehlt, von den Erfolgsrezepten des rheinischen Kapitalismus keine Ahnung.
Zeitgleich redet Christian Wulff im niedersächsischen Celle. Auch dort ist Landesparteitag, allerdings gibt sich der Ministerpräsident in seiner Rede brav. Spitzen gegen Merkel fehlen. Worte sind auch nicht mehr nötig, Wulffs Taten auf dem Parteitag reichen völlig aus: Er übergibt den CDU-Landesvorsitz an seinen Fraktionschef David McAllister. Wulff will sich künftig mehr um die Bundespolitik kümmern. In Berlin wird das als Drohung verstanden.
Wulff und Rüttgers fühlen sich in der Union stark wie nie. Während die bundesweiten Umfragewerte der Partei auf dem Niveau des bescheidenen Wahlergebnisses von 2005 stagnieren, konnte der Niedersachse bei der Landtagswahl im Februar seine Macht behaupten, freut sich der Nordrhein-Westfale im einstigen SPD-Stammland über konstante Werte oberhalb von 40 Prozent.
Darin steckt auch eine gute Nachricht für Angela Merkel. Sie lautet: Rüttgers und Wulff sind auch deswegen so stark, weil von den Kritikern der Kanzlerin sonst niemand übriggeblieben ist. Roland Koch kämpft in Hessen mit einer linken Landtagsmehrheit, der Schwabe Günther Oettinger hat sich um seinen politischen Kredit geredet. Selbst die CSU ringt mit sich selbst und ihrem Überleben als bayerische Monopolpartei.
Die Umfragen allerdings machen auch Abgeordnete im Bundestag nervös. Anfang Juni fiel die Union im ARD-Deutschlandtrend erstmals unter ihr Wahlergebnis von 2005, auf nur noch 34 Prozent - und das, obwohl weiterhin 71 Prozent mit der Arbeit der Kanzlerin zufrieden sind. "Personalisierung allein wird nicht tragen", donnert Rüttgers mit aller Leidenschaft, zu der er fähig ist, in den Dortmunder Saal. "Es kommt auf die Stimmen für die Partei an." Auch die Ursache für diese Formschwäche hat Rüttgers ausgemacht. "Man muss aufpassen, dass Kompromisse nicht zu teuer sind", sagt er. "Man muss aufpassen, dass in der großen Koalition unser Profil nicht verlorengeht."
Vor knapp zwei Wochen meldeten sich die Kritiker auch in der Sitzung der Bundestagsfraktion zu Wort. Es ging um die Förderung der Sonnenenergie. Die Kanzlerin sei vor Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD) eingeknickt, hieß es. In Zeiten ohnehin steigender Energiepreise könne man den Verbrauchern nicht auch noch einen Aufschlag für Solarstrom aufbürden. Als Wortführer tat sich Helmut Kohls früherer Forschungsminister Heinz Riesenhuber hervor. Streit gab es auch um die Steuerpolitik, wo sich Arbeitnehmer- und Mittelstandsflügel zum Ärger der Kanzlerin der bayerischen Forderung nach niedrigeren Tarifen anschlossen.
Mit welchem Profil sich die Union von der SPD abgrenzen soll, ist allerdings der Dortmunder Rede des Ministerpräsidenten kaum zu entnehmen. Rüttgers hält ein sozialkonservatives Plädoyer für das Ende aller Reformen. Keine Familienpolitik, die Mütter in den Beruf drängt. Keine Wissenschaftspolitik, die Forschung mit Stammzellen freigibt. Aber auch: eine Sozialpolitik nach Art der SPD vor Beginn der Ära Gerhard Schröder.
"Man braucht nicht dauernd nach einem neuen Ruck zu rufen. Der Ruck war schon da", sagt Rüttgers. "Wir dürfen uns die Spielregeln des globalen Wettbewerbs nicht von außen diktieren lassen." Und: "Wer bis Freitag arbeitet, muss auch einmal feiern. Man muss nicht rund um die Uhr mit dem Handy erreichbar sein."
Symbolthema aber bleibt die Rente. "Ziel der CDU Nordrhein-Westfalen ist es, dass, wer ein Leben lang vollzeitbeschäftigt war, eine Rente oberhalb der Armutsgrenze erhält": Dem Satz, mit dem sich Rüttgers vor zwei Monaten den Ärger der CDU-Bundesspitze zuzog, stimmten die Delegierten nun bei nur 2 Enthaltungen zu. Auch die Merkel-Leute, die im Landesverband zahlreich vertreten sind, votierten nicht dagegen. Sie taten lieber so, als hätten sie in der Rüttgers-Rede die Spitzen gegen Merkel nicht bemerkt.
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