: Rütteln am Schlaf der Ungerechten
Moskauer Studenten erzwingen durch Hungerstreik Audienz bei Gorbatschow/ Unzufriedenheit mit der Studenten-„Nomenklatura“/ Auch Mütter ermordeter Wehrpflichtiger im Kreml empfangen/ Passanten solidarisieren sich ■ Aus Moskau Barbara Kerneck
Nicht nur auf Moskaus Straßen werden die Schlangen länger, auch vor dem Arbeitszimmer des UdSSR- Präsidenten. Am Donnerstag abend meldeten die Fernsehnachrichten als erstes, Gorbatschow habe an diesem Tage eine größere Gruppe von Studentenvertretern empfangen, außerdem etwa 40 Mitglieder des „Sowjetischen Komitees von Eltern Wehrdienstleistender“. Letztere hatten es in der Nacht zuvor geschafft, aus Protest gegen die Untätigkeit der Behörden, im Gebäude des Obersten Sowjet zu übernachten. Seit zwei Jahren fordern sie gerichtliche Untersuchungen über das Schicksal ihrer Söhne, die beim Wehrdienst ums Leben kamen. Mütter, denen bekannt ist, daß ihre Kinder durch schikanöse Dienstanweisungen oder sadistische Mißhandlungen starben, sind auf den Moskauer Polit-Meetings schon ein gewohntes Bild. Wie eine Phalanx pflegen sie am Rande zu stehen, in schweren Filzstiefeln — als seien sie zu Fuß nach Moskau gelaufen — und strecken die altmodisch emaillierten Porträts ihrer Söhne wie Schilde vor sich. Den Aussagen des „Komitees“ zufolge, kommen täglich aus den Streitkräften zwei dutzend Särge heim. Gorbatschow versprach gestern eine neue „Kommission beim Präsidenten der UdSSR“ zur Untersuchung dieser Fälle.
Im Gespräch der StudentenvertreterInnen mit dem Präsidenten ging es dann um das Leben, aber um seine Schattenseiten für junge Menschen in der UdSSR. Das Durchschnittsstipendium von 60 Rubel ist heute um ein Drittel weniger wert, die Enge in den Studentenheimen unerträglich, der Ausweg auf den privaten Wohnungsmarkt versperrt. Zudem kann diese Studentengeneration als erste seit Bestehen der Sowjetunion nicht mehr auf garantierte Arbeitsplätze hoffen, am wenigsten die Mädchen. „Die Unternehmen sagen ganz offen: schickt uns, wen ihr wollt, wenn es nur ein Mann ist“, berichtete ein Sprecher. Gorbatschow versprach, die Resultate der Unterredung zu berücksichtigen, wenn demnächst das neue Staatsprogramm für das Bildungswesen ausgearbeitet wird. Und einen ständigen „Draht“ zwischen den höchsten Führungskreisen des Landes und der Studentenschaft zu institutionalisieren.
Als „Jugend-Nomenklatura“ bezeichnet die bei Gorbatschow versammelten StudentInnen ein Vertreter des „Moskauer Studentenklubs“: „Die Hälfte wurde vom Komsomol und von den offiziellen Gewerkschaftsverbänden entsandt, die andere von den Hochschulrektoren. Sie können unsere Interessen nicht vertreten. Wir haben bis jetzt noch keinen von ihnen hier gesehen.“ „Hier“ bedeutete an den Säulen der Kunsthalle auf dem Mange-Platz, wo sich Mitglieder des Klubs am Donnerstag ab elf Uhr vormittags zu einem mehrstündigen Hungerstreik einfanden. Eigentlich wollte man/frau sich mit Zelten und kaffeewärmergeblümten Schlafsäcken im Alexander-Garten am Kreml niederlassen. Aber dies verhinderte ein beträchtliches Milizaufgebot. Etwa fünfzig Beamte sind bei Eintreffen der taz gegen sechzehn Uhr zuwege, drei Busse mit Angehörigen der Anti-Terrortruppe „Omon“ warten in einer Nebenstraße. Zu dieser Zeit sind etwa fünfzig AktivistInnen im Hungerstreik, die Nacht zum Freitag werden nur vier Unentwegte auf den naßkalten Steinstufen ausharren.
Der 'Komsomolskaja-Prawda‘ zufolge unterstützen über fünfzig Prozent der Moskauer Studenten den neuen hochschulübergreifenden Klub. Sein Programm — nicht Alltagsnörgelei, sondern politische Forderungen —: Rücktritt der Regierung Ryschkow, Verstaatlichung des Vermögens von KPdSU und Komsomol, Entpolitisierung der öffentlichen Institutionen und Einführung von Wehrersatzdienst. „In der Tschechoslowakei und in Rumänien waren die Studenten die Hauptkraft der gesellschaftlichen Umgestaltung. Unsere Aktion heute soll ein Startzeichen für eine Studentenbewegung in Moskau, wenn nicht im ganzen Land geben“, erklärt selbstbewußt ein junger Mann. Bis zum späten Abend bekommen die „Hungernden“ viel Besuch, darunter den stellvertretenden Moskauer Oberbürgermeister Stankewitsch und UdSSR-Bildungsminister Jagodin.
Nach 17 Uhr sind es erstmal einfache Bürger, auf die das Häuflein wie ein Magnet wirkt. Da es sich für sie kaum mehr lohnt, auf die Jagd nach einem Leckerbissen in den Geschäften zu gehen, finden sie hier willkommene Abwechselung. Nur eine Frau meint besorgt, fast unter Tränen, daß sich diese jungen Leute „inhuman“ verhielten: „Sie wissen nicht, was sie ihren Kommilitonen antun, die sie da mit hineinziehen!“ Der Tenor unter den restlichen Passanten ist hoffnungsvoll: „Wenn sich die Studenten erheben, kann es noch vorangehen!“. Die Stimmung steigt mit zunehmender Dunkelheit, es wird immer wilder gestikuliert. „Die ganze Studentenschaft muß sich erheben!“ fordert ein ameisenhaftes Muttchen. „Ganz Moskau muß sich erheben!“ ergänzt ein pausbäckiger Mann. „Vor allem die Frauen müssen sich erheben!“, regt ein Künstlertyp mit Samtbarett an: „Die Frauen müssen ihre leeren Kochtöpfe nehmen und auf dem Roten Platz damit klappern!“ Als „wohlüberlegten Rückzugsplan der Nomenklatura“, bezeichnet der Pausbäckige die neueste Wirtschaftspolitik: „Sie werden jetzt in den Untergrund kriechen, wozu sie sich hervorragend mit Mitteln ausgestattet haben. Nach einiger Zeit kriechen sie wieder hervor und sitzen uns weiter wie ein Krake am Hals. Sie werden die ,Kapitalisten Nr.1‘ sein.“ „Wenn sie glauben, uns mit ihren Militärparaden zu imponieren, schlafen sie!“, entsrüstet sich eine junge Frau. „Die schlafen, schlafen!“ bestätigen die Umstehenden im Chor. „Aber wenn die Frauen auf ihre Kochtöpfe schlügen, würden sie schon aufwachen!“, beharrt der Künstlertyp. Inzwischen hat sich die allgemeine Aufmerksamkeit einem Onkelchen in schwarzer Lederjacke zugewandt, der den Millizionären kleine Zeichen gibt. Was er hier treibe, fragt ihn jemand. „Rumspionieren!“, rufen die anderen, aber das Onkelchen korrigiert verschmitzt: „Ich solidarisiere mich mit den Studenten.“ Wie er diese Solidarität praktiziere? „Wo immer sie sitzen, sitze ich daneben und wo immer sie gehen, gehe ich hinter ihnen!“ versichert der KGB-Mann. Und noch lachen alle.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen