piwik no script img

■ ScheibengerichtRüdiger Carl/ Joelle Leandre

Blue Goo Park

(FMP CD 52)

Seine Oma aus Ostpreußen war es, die ihm als kleinem Jungen das Akkordeonspiel beibrachte. Wie erzählt wird, sang, pfiff und tanzte er dazu. Wenig später spielte er schon auf Hochzeiten in der Nachbarschaft. Dann kam die Rock'n'Roll-Zeit, und um nicht als Kitschier oder Vertriebenen-Verbands-Mitglied verdächtigt zu werden, ließ Rüdiger Carl das Handorgelspiel erst einmal sein.

Erst Mitte der siebziger Jahre holte er die „Quetsche“ wieder hervor, um sie im Umfeld der Freejazz-Szene zu reaktivieren – Carl war hier mittlerweile als Saxophonist und Klarinettist involviert. Stichwort: Experiment! Er klopfte, preßte und schüttelte das Ding, um ihm Töne zu entlocken, die es selber noch nicht vernommen hatte. Damit sollte ihm, wie Rüdiger Carl es nennt, „seine naturhafte deutsche Sülzigkeit und Spießigkeit schocktherapeutisch ausgetrieben werden“.

Diese Phase der „Materialerkundung“ ist allerdings heute in der Freien Musik weitgehend abgeschlossen – auch für Carl. Gegenwärtig wird vermehrt mit Vorgaben, Absprachen und Rahmenplanungen gearbeitet, welche die Möglichkeitspalette an Klängen insoweit nutzen, als sie dem improvisatorischen Prozeß Gestalt und Richtung geben. Rüdiger Carl und die französische Vokalistin und Baßspielerin Joälle Léandre tun genau das auf eindrucksvolle Weise – jeder ihrer aus dem Augenblick hervorgezauberten kleinen Miniaturen geben sie ein unverkennbares Gesicht. Das kann exzentrische Grimassen schneiden, verdutzt aus der Wäsche gucken, verträumt die Welt betrachten oder grimmig die Zähne blecken.

Ein langer Weg für das Akkordeon – von Ostpreußen in die Welt hinaus. Ob solche Töne der Oma gefallen hätten?

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen