: Rückwärts in die Zukunft
POP DREI Keine Klangrevolution, dafür Wiederaneignungen alter Traditionen: Die House- und Techno-Alben des Jahres 2009 horchen weit in die Vergangenheit
VON TIM CASPAR BOEHME
Gelassener Ausklang der House- und Techno-Dekade null. Statt Neuentwürfen waren 2009 behutsame Erkundungen der eigenen Geschichte an der Tagesanordnung. Ob Nachwuchs oder Veteran, niemand ruft zum Umsturz. Lieber schreibt man sich ein in die Genealogie.
„Playtime“, das schönste House-Album des Jahres, stammt von zwei Veteranen der Szene mit gemeinsamer Legende. David Moufang alias Move D aus Heidelberg und der Kalifornier Jonah Sharp begegneten sich 1994 bei einem Autechre-Konzert, nahmen Musik unter dem Namen Reagenz auf und gingen wieder getrennte Wege. 2008 Jahr traf man sich erneut bei einem Auftritt der englischen Band, wieder entstand in der Folge ein Reagenz-Album. Das große Kunststück der beiden Freunde ist die Kombination von bodenständig pumpenden Rhythmen mit einer fast wissenschaftlichen Freude am Entdecken neuer Klänge. Ihre Musik ist so zerebral wie körperlich, bewegt sich selbstbewusst zwischen House-Geschiebe und Ambient-Flug und vergisst nie die Gesamtchoreografie.
Gestrenger Roboterfunk
Da gehen die Hauntologists schon spartanischer zu Werke. Der Berliner Produzent Jay Ahern und Stefan Schneider, bekannt von der Band To Rococo Rot, überraschten mit zwei EPs voll gestrengem Roboterfunk. Im Sound weniger Maschinen fühlt man sich ins vordigitale Zeitalter zurückversetzt. Dichte Rhythmusschachteleien in permanenter Mutation, leise Beschwörungen von alten House-Geistern.
Laute Gesten meidet auch der 23-jährige Manuel Tur aus Essen. Auf seinem Debüt „0201“ mischt das Wunderkind seine Vorliebe für Deep-House und Soul mit verhallten Stimmungen und aufgebrochenen Beats. Detroit ist Hauptreferenz für den Berliner Produzenten Redshape, der stets in roter Maske auftritt. Sein Debütalbum seziert das futuristische Vokabular früher Techno-Entwürfe, bis nur noch Fragmente bleiben, mit denen er ganze Sci-Fi-Dramen erzählt. Redshapes Ökonomie der Mittel ist so souverän, dass er nicht viel Zeit für einen perfekten Spannungsbogen braucht: Er schafft es in weniger als 50 Minuten.
Auch nicht beim Berghain-Haus-DJ Ben Klock, dessen Album „One“ zu Beginn des Jahres als dunkel schimmernder Monolith auf die Erde fiel. Dass Technikversessenheit auch beim DJ-Mix funktionieren kann, zeigt Dixon vom Innervisions-Label. Auf „Temporary Secretary“ mischt er unterschiedlichste Tracks digital ineinander und zeigt, was ein Mix leisten soll: die einzelnen Stücke so verbinden, dass es interessant bleibt.
■ Reagenz: „Playtime“ (Workshop); Hauntologists: „EP 1 & 2“ (Hauntologists); Manuel Tur: „0201“ (Freerange); Redshape: „The Dance Paradox“ (Delsin); Ben Klock: „One“ (Ostgut); Dixon: „Temporary Secretary“ (Innervisions)