Rücktritt von Top-Schiedsrichter Fandel: "Irgendetwas bleibt immer hängen"
Herbert Fandel pfeift nicht mehr. Aus Angst vor Kontrollverlust verstecke sich ein Referee heute oft hinter dem Regelwerk, anstatt das Spiel auszubalancieren, meint er.
Es gibt eine Szene in dem Dokumentarfilm "Spielverderber", der heute in den Kinos anläuft, da stellt sich Herbert Fandel die Kernfrage seines Berufsstandes. Wenige Minuten vor dem Anpfiff des Spiels zwischen Borussia Dortmund und Hertha BSC sitzt er in der Kabine auf einer Holzbank. Um ihn herum ist es bereits fürchterlich laut. Fandel hört in diesem Augenblick tief in sich hinein. Der Referee stellt sich eine Frage: "Ist das eigentlich noch beherrschbar, was da gleich auf mich zukommt?"
Fandel wurde wenige Minuten zuvor bereits gnadenlos angefeindet. Dabei hatte das Spiel noch gar nicht begonnen. Eine Stunde vor der Bundesligapartie hatte mit seinen beiden Assistenten den Platz des Dortmunder Stadions abgeschritten. Er kontrollierte die Linien, die Tornetze, den Rasen. Von den Rängen schlug ihm eine Welle von Anfeindungen entgegen.
"Früher hat mich so etwas stark mitgenommen", erklärt Fandel. "Auch über Fehlentscheidungen habe ich mir zu Anfang meiner Karriere noch lange den Kopf zerbrochen. Heute ist ein Tag danach fast alles wieder vergessen – aber irgendetwas bleibt immer hängen."
Er hat Strategien entwickelt, mit dem Druck, der ständigen Kritik und Besserwisserei von den Fans, Spielern und den Medien, umzugehen. Aber irgendwann war wohl auch für ihn die Schmerzgrenze erreicht.
Herbert Fandel hat in dieser Woche seinen Rücktritt als Schiedsrichter erklärt. 45 Jahre alt ist er, hätte noch zwei Jahre weiter pfeifen können. Dann erst hätte die Altersgrenze für Schiedsrichter ihn zu diesem Schritt gezwungen. "Ich habe meine großen Ziele erreicht und eine neue Zeit bricht an", erklärt der Referee zum Abschied.
247 Bundesligaspiele hat Fandel geleitet, vertrat Deutschland bei der EM im vergangenen Jahr und leitete 2007 das Champions-League Finale zwischen dem AC Mailand und dem FC Liverpool. Die WM-Teilnahme im eigenen Land wurde Fandel 2006 von der Fifa verwehrt.
Deutschland durfte nur einen Schiedsrichter stellen. Das war Markus Merk. Fandel ärgert das bis heute. Er regt sich über die sportpolitischen Rücksichten der Fifa auf, die dafür sorgt, "dass bei einer WM nicht die Besten nominiert werden, sondern Schiris aus allen Kontinenten auflaufen sollen."
Es gibt noch eine andere Szene in dem Film, die Fandels Rücktrittsentschluss ganz gut auf die Schliche kommt. Da sitzt er gemeinsam mit seinem Sohn am Klavier. Fandel hatte eine Karriere als Konzertpianist vor sich, die er im Alter von 22 Jahren wegen der Schiedsrichterei aufgab.
Fandel sagt: "Als Schiedsrichter muss man lernen, die Balance im Spiel zu halten, den Spielfluss nicht zu stören". Zuletzt hat Fandel jedoch gespürt, dass er viel strenger pfeifen muss, als ihm lieb war. Dass er den Spielfluss oft unterbrechen musste und die richtige Balance aus den Bundesligamatches mehr und mehr verschwand.
"Schiedsrichter pfeifen heute gezwungenermaßen kleinteiliger und ziehen sich mehr und mehr auf ihr Gesetzbuch, das strenge Regelwerk, zurück", hat Fandel als Entwicklung der vergangenen zehn Jahre ausgemacht. Es ist wohl eine Art Reflex, um die Kontrolle über das Spiel nicht zu verlieren. Die Tricks der Profis werden immer raffinierter und die Beeinflussungen von Trainer, Fans und nicht zuletzt durch das Fernsehen als eine Art Oberschiedsrichter gefällt Fandel überhaupt nicht.
Den Videobeweis lehnt er zur Auflösung von kniffligen Foul- oder Abseitsentscheidungen entschieden ab. "Der Videobeweis verlagert die Fehlerquelle Schiedsrichter doch nur auf die andere Fehlerquelle Technik", davon ist Fandel fest überzeugt. Als Schiedsrichter auf dem Platz muss er sich nun darüber keine Sorgen mehr machen. Vielleicht aber schon bald in einer anderen Funktion. Fandel soll als kooptiertes Mitglied im DFB-Schiedsrichter-Ausschuss mitarbeiten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge