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Rückblick auf 110 Tage WahlkampfZwischen Desaster und Hofnarr

Kommentar von Stefan Alberti

Der Bundestagswahlkampf hat ganz Deutschland beschäftigt, Berlin aber ganz besonders. Ein Rückblick auf turbulente Monate.

Nicht nur, weil das Reichstagsgebäude dort steht, hat Berlin eine besondere Rolle im zu Ende gehenden Bundestagswahlkampf gespielt Foto: Markus Schreiber

E inhundertzehn Tage sind am Wahlsonntag seit jenem 6. November 2024 vergangen, an dem die erste Ampel-Koalition auf Bundesebene bloß noch Geschichte war. 110 Tage, die zu 110 Wahlkampftagen wurden. Das galt deutschlandweit. Aber Berlin ist gefühlt und tatsächlich eine Stufe mehr involviert gewesen.

Klar, ließe sich sagen, ist ja auch die Hauptstadt, hier ist der Bundestag, in dem es vor allem jene bislang einmalige Abstimmung gab, in der sich nur dank AfD-Stimmen eine Mehrheit ergab. Doch Berlin war weit über Kanzleramt und sonstige Machtzentren hinaus prägend in diesen etwas mehr als drei Monaten.

So nahm Mitte Dezember hier das seinen Ausgang, was mutmaßlich bis zur Wahl Thema geblieben wäre, hätte nicht das gemeinsame Abstimmen von CDU und AfD viele andere Aufreger verdrängt: die Affäre Gelbhaar.

Die Gelbhaar-Affäre

Beim Landesparteitag der Berliner Grünen informierte der Pankower Bundestagsabgeordnete Stefan Gelbhaar per Mail darüber, dass es Vorwürfe gegen ihn gebe und er seine Kandidatur für die Landesliste der Partei zurückziehe. Erst zwei Wochen zuvor hatte ihn sein Kreisverband mit über 98 Prozent Zustimmung wie 2017 und 2021 zum Direktkandidaten gewählt.

Es begann eine Geschichte von Lügen und Intrigen und irritierender Berichterstattung. Gelbhaar verlor bei einer Neuabstimmung des Kreisverbands seine Direktkandidatur. Die taz titelte am 21. Januar: „Ein Fall. Ein Wort. Desaster“. Bundesweit standen die Grünen als Partei da, in der etwa eine führende CDU-Politikerin ein „brutales Hauen und Stechen“ im direkten Umfeld von Kanzlerkandidat Robert Habeck sah.

Durch die plötzlich alles dominierende Brandmauerdebatte kam die Partei um Antworten herum – letztliche Aufklärung durch eine vom Bundesvorstand angekündigte Kommission steht noch aus.

Der herabgewürdigte Kultursenator

Eineinhalb Wochen vor der Wahl schließlich rückt wieder ein Berliner Politiker ins Zentrum der Aufmerksamkeit, diesmal ein Senator. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bestätigt, bei einer privaten Feier in der Hauptstadt im Zusammenhang mit Joe Chialo, Berliner Kultursenator und bundesweit erster schwarzer CDU-Landesminister, den Begriff „Hofnarr“ gebraucht zu haben.

Rassismus-Vorwürfe werden laut, denen Scholz widerspricht. Chialo selbst schreibt am Morgen nach Bekanntwerden des Vorfalls in einer Erklärung, er halte Scholz nicht für einen Rassisten: „Daran, dass seine Worte herabwürdigend und verletzend waren, ändert dies jedoch nichts.“

Die Umfragewerte sowohl von Grünen als auch von SPD beeinflussen beide Themen allerdings nicht nennenswert. Wobei Experten zufolge so viele Wahlberechtigte wie nie zuvor bis in diese Woche hinein noch unentschieden gewesen sind.

Nachwirkungen und Nachbereitungen

Gut möglich ist, dass Chialo nach der Bundestagswahl die Ebene wechselt. Der mögliche künftige Kanzler Friedrich Merz von der CDU wird die Nachfolge der bisherigen Kulturstaatsministerin Claudia Roth von den Grünen regeln müssen, falls die nicht doch als Koalitionspartner gebraucht werden.

Diesen Posten mit Chialo zu besetzen, der in Berlin schon im gleichen Feld tätig ist, ist fachlich naheliegend – und wäre emotional ein klares Zeichen an den dann gewesenen Bundeskanzler Scholz, wie daneben seine Wortwahl war.

Die aktuell noch mitregierenden Grünen wiederum werden auch ohne Regierungsjobs in der Pflicht sein, Stefan Gelbhaar für den Verlust seines Bundestagsmandats zu entschädigen. Auch wenn andere Themen den Umgang mit ihm nach hinten haben rücken lassen: Mit einem bloßen „Sorry“ für die Vorgänge in der Partei ist es nicht getan.

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Redakteur für Berliner Landespolitik
Jahrgang 1967. Seit 2002 mit dreieinhalb Jahren Elternzeitunterbrechung bei der taz Berlin. Schwerpunkte: Abgeordnetenhaus, CDU, Grüne.
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