Rudi Kargus zum 70.: Gut festgehalten

Weil es mehr als nur Fußball gibt, macht der ehemalige HSV-Torwart Rudi Kargus Kunst. Eine Betrachtung zum 70. Geburtstag des Künstlers.

Rudi Kargus steht vor einem Bild, an dem er gerade malt

Das Leben jetzt mit der Kunst: Rudi Kargus bei der Arbeit Foto: Carsten Dammann

QUICKBORN taz | Es müssen die Hände sein, die diesen Mann zu besonderen Leistungen befähigen. Rudi Kargus hielt und parierte als Torhüter mit seinen Händen so bravourös Bälle, dass er Deutscher Meister wurde und es sogar bis zum Nationaltorwart brachte. Aber Kargus startete noch eine zweite, ungewöhnliche Karriere: Er gilt als angesehener Künstler, seine Werke sind begehrt und werden im In- und auch Ausland ausgestellt.

Seine Hände sind, genauer betrachtet, nicht besonders auffällig und sogar eher klein geraten. „Das verwundert viele“, sagt Kargus, der deshalb als Torwart große Handschuhe überzog. Aber sie sind noch in einem vergleichsweise guten Zustand: Es gibt Torhüter, die nach der Karriere kaum noch Gabel und Messer halten können, Kargus hält den Pinsel, so oft es geht. Natürlich haben auch seine Hände gelitten, der Mittelfinger ist krumm, ein Riss der Strecksehne, mit dem er wochenlang spielte, nur mit Tape-Verband gepolstert. „Das war mein Ehrgeiz, alle 34 Spiele der Saison bestreiten zu wollen“, sagt er heute über seine Fußballzeit, die ihm oft surreal erscheint. Und schließlich sei beim Malen der „Kopf allemal wichtiger als die Hände. Er steuert, sie führen aus.“

Die zweite Karriere von Rudi Kargus, der am 15. August 70 Jahre alt geworden ist, begann völlig unerwartet Mitte der 1990er Jahre: „Das war beinahe wie eine Neugeburt, ein geschenktes zweites Leben“, sagt er. Auf seiner Website hat der Künstler nur noch einen kargen Eintrag zu seiner Fußballerlaufbahn stehen: „1971–1989 Profifußballspieler beim Hamburger SV und anderen Vereinen.“

Die Hände

In seiner Zeit als Fußballtorwart vor allem für den Hamburger SV erarbeitete sich Rudi Kargus den Ruf als „Elfmetertöter“, sein Handabdruck und eine Ehrentafel für ihn sind am Walk of Fame vor dem HSV-Stadion am Volkspark zu sehen.

Die Kunst

Im Kunsthaus Stade wird derzeit eine Ausstellung mit Bildern von Rudi Kargus, der am 15. August seinen 70. Geburtstag hatte, präsentiert. Zu sehen sind bis zum 11. September 2022 mehr als 50 Arbeiten aus den letzten zehn Jahren, Titel der Schau ist „Rudi Kargus. Ich ist ein anderer“.

Rudi Kargus, 1952 in Worms geboren, zählte lange zu den besten deutschen Torhütern, mit dem Hamburger SV gewann er 1977 den Europapokal der Pokal­sieger und wurde 1979 Deutscher Meister. Dass er nicht mehr als drei Länderspiele absolvierte, lag an Sepp Maier, der in den 1970er Jahren als einer der besten Keeper der Welt galt. Kargus aber hält bis heute einen Rekord, den die Fußballchronisten immer wieder bemühen: Kein anderer Torwart parierte mehr Elfmeter, mit 23 abgewehrten Strafstößen ist er als der „Elf­meter­killer“ in die Bundesligageschichte eingegangen.

Aber Kargus tat sich schwer mit den eingefahrenen Mechanismen im Sport, in dem ihm Profifußballer wie „dressiert“ vorkommen. Er kam 1971 zum HSV in eine Mannschaft, die von konservativen Haudegen wie dem gestrengen Willi Schulz angeführt wurde. Wenn Kargus sich weigerte, wie alle anderen Spieler zur Auswärtsfahrt den „schrecklichen hellblauen Mannschaftsanzug“ anzuziehen und lieber in zerschlissenen Jeans und Jesus­latschen erschien, begann Schulz zu meckern: „So kommst du nicht mehr mit.“

Ein unangepasster Profi

Kargus war geprägt von den gesellschaftlichen Veränderungen und der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre: „Das war die Zeit des Aufbruchs und des Protestes“, erzählt Kargus. Als „Revoluzzer“ sah er sich nie, aber er blieb ein unangepasster Profi, der „immer ein bisschen seinen Protest gelebt hat“.

Im Tor trat er selbstbewusst auf, im Privatleben war er eher introvertiert und litt unter „diesem Leben unter Beobachtung und der Erwartungshaltung der Masse“. Der Torwart ist im Fußball der wohl wichtigste Akteur, der allerletzte Mann vor der Torlinie, dem mehr Verantwortung zukommt als den anderen Spielern: Er kann mit einer Bewegung Triumphe und Titel sichern und mit einem Fehlgriff Niederlagen und Tragödien einleiten.

Rudi Kargus steht im Tor

Das Leben früher: Rudi Kargus steht im HSV-Tor Foto: Otto Werner/imago

„Es ist eine sehr spezielle und individuelle Position“, sagt Kargus. „Sie macht etwas Besonderes mit einem.“ Mal umjubelter Held, mal einsamer Versager, der sensible Torwart tat sich schwer in seiner exponierten Rolle: „Als Killer im Tor habe ich mich schon gar nicht gefühlt“, sagt Kargus. Mit anderen über seine Empfindungen und Ängste zu reden „war unmöglich“, es wäre sofort als Zeichen von Schwäche ausgelegt worden im harten Männersport Fußball. „Wenn ich das den älteren Spielern erzählt hätte, dann hätten die gesagt: Jung, da bist du bei uns am völlig falschen Platz.“ Einen Sportpsychologen zu besuchen, „wäre völlig verpönt gewesen. Das Wort durfte man gar nicht erwähnen, da galt man schnell als nicht normal.“

Als Kargus, der beim HSV auch als Trainer arbeitete, Mitte der 1990er Jahre künstliche Hüftgelenke eingesetzt wurden, „da fing es an, in mir zu arbeiten“. 30 Jahre seines Lebens habe er nur an Fußball gedacht, jetzt begann er zu reisen und „sich zu bilden“. Er beschäftigte sich mit Geschichte, ging ins Theater, las Thomas Mann und Dostojewski. Im Urlaub in Spanien fing er an „zu pinseln, die Malerei fühlte sich ganz gut an“. Kargus belegte Kurse beim Neoexpressionisten Markus Lüpertz, er studierte das Werk von Francis Bacon.

Ein radikaler Bruch

Die Entdeckung der Malerei war auch ein radikaler Bruch in seinem Leben, der ungeahnte Möglichkeiten eröffnete: „Beim Malen muss der Zufall eine Rolle spielen. Da kommt es schon mal vor, dass ich die Kontrolle verliere. Disziplin hatte ich genug im Leben.“

Über die Jahre entstehen Werke wie „Der verlorene Engel“, „Die Unschuldigen“ oder „Triumph“: Es seien die „Ambivalenz in meiner Persönlichkeit und die Brüche in meiner Biografie“, die er immer wieder thematisieren muss, in einem Wechselspiel von Schönheit und Hässlichkeit, von Hoffen und Verzweifeln. Auch wenn die Bilder manchmal von Melancholie geprägt sind, sind sie immer von der Hoffnung auf Veränderung getragen. „Irgendwo im Nirgendwo existiert eine bessere Welt und macht das Unmögliche möglich“, sagt Kargus, es könnte die geistige Grundlage sein, auf der viele seiner Werke entstehen.

Rudi Kargus wird gern der expres­sio­nis­ti­schen Malerei zugeordnet. Aber sie ist auch gegenständlich, häufig bildet eine Fotografie die Grundlage eines Bilds. Als „expressive Malerei“ bezeichnet der Künstler seine Arbeiten: „Es ist eine individuelle und zeitgenössische Malerei, die in großen Teilen körperlich und gestisch expressiv sein kann. Ich versuche aber auch detailliert und akribisch zu arbeiten.“

Kargus steht beinahe jeden Tag in seinem Atelier in einer ehemaligen Scheune im Rantzauer Forst bei Quickborn. Es riecht nach Farbe und Verdünner, auf dem Teppich kleben Farbreste. Wenn Rudi Kargus malt, kommt es vor, dass er alles um sich herum vergisst, auch zu essen und zu trinken.

Die Malerei sei inzwischen alles für ihn, „sie fordert mich und macht mich zufrieden. Sie lässt mich aber auch verzweifelt nach Hause gehen und stellt mich vor Probleme, die ich irgendwie lösen muss.“

Gefangen in alter Rolle

In einigen Medien, in denen nach wie vor die Sportjournalisten für ihn zuständig sind, bleibt Rudi Kargus in seiner alten Rolle gefangen: Der Fußballer, der jetzt einen Pinsel hält, statt des Balls. „Der Elfmetertöter mit Pinsel, da schüttelt es mich vor Grausen“, sagt Kargus, der zu Beginn seiner Künstlerkarriere sogar mit dem Gedanken spielte, unter Pseudonym zu arbeiten, „um den Fußballer Kargus beerdigen zu können“.

Rudi Kargus ist kein Fußballer, der zum Maler geworden ist, er ist eher der Künstler, der in seinem ersten Leben aus Versehen Fußballprofi geworden ist. „Ich war schon immer ein relativ sensibler Mensch, das war für den Fußball eher von Nachteil“, weiß Kargus. „Jetzt im zweiten Lebensentwurf ist es ein Vorteil.“

Es kommt selten vor, dass Rudi Kargus in seinen Bildern sein Leben als Fußballprofi direkt thematisiert. Eigentlich hätten seine erste und zweite Karriere nicht viel miteinander zu tun – zumindest auf den ersten Blick. Aber natürlich weiß Kargus, dass er das erste Leben nicht einfach abschütteln kann. „Vieles habe ich weggeschoben, aber es war nicht weg, heute kann ich es besser darstellen und interpretieren durch die Malerei“, sagt er. Die „geistigen Ablagerungen des Fußballs“ bewegen ihn noch immer an der Staffelei, beim Malen, sagt Kargus, „fängt man an, in sich zu steigen und wird mit seiner Vergangenheit konfrontiert“. Dadurch verstehe er auch „vieles besser aus meinem ersten Leben. Auch, was mir so viel Druck erzeugt hat.“

Man liest häufig Bekenntnisse von ehemaligen Fußballern, die wenigsten haben mehr zu sagen außer den immer selben Anekdoten aus dem Fußballbetrieb. Kargus kann heute in seiner neuen Rolle mit Distanz die Vergangenheit sezieren, seine Refle­xio­nen sind auch ein Beitrag zur Sozialgeschichte des „abenteuerlichen Fußballs“ in den 1970er und 1980er Jahren.

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