: Rotkäppchens Großmutter
Tatort Schlachthof: Natursekt, Kaviar, Ketten, Peitschen und Fesseln. „IM Pervers“ stellt seine Phantasien vor. Er ist damit aber ziemlich allein. „Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh; wie dies stirbt, so stirbt er auch.“ ■ Von Iris Hanika
Der alte Schlachthof liegt im Regen. Die Thaerstraße, die mitten hinein führt, ist eine Sackgasse, sie verengt sich zu einer Fußgängerbrücke über die S-Bahn-Gleise, die das Gelände an einer Seite begrenzen. Tristesse gratis, bloß darf einen der Pförtner nicht erwischen, wenn man übers Tor steigt. Dann steht man gleich vor der Darmschleimerei, die nicht die Fortsetzung von Arschkriecherei ist, sondern eine unter Denkmalschutz stehendes Gebäude, in dem bis vor wenigen Jahren noch gearbeitet wurde. Bis wann hier aber Tierdärme gereinigt wurden, um dann als Bratwursthüllen zu dienen, weiß mein Begleiter leider nicht, denn der ist weniger an der Geschichte des Schlachthofs interessiert als an der zukünftigen Nutzbarkeit für seine Phantasie.
„Die Darmschleimerei könnte die Zentrale des S/M-Freizeitparks werden“, sagt der freundliche Enddreißiger, der seinen Namen nicht preisgeben will und sich „IM Pervers“ als Pseudonym ausgedacht hat. Nennen wir ihn einfach Michael. Mit seinem halblangen Haar sieht er aus wie Rotkäppchens Großmutter. Wir stehen in einer kleinen Halle unter einem Glasdach, das nachträglich zwischen die gelben Backsteingebäude rechts und links gesetzt wurde. Diese Gebäude bestehen im Parterre nur aus zirka zwei auf drei Meter großen Nischen. „Da könnte man Gitter davor machen und dahinter dann die Sklaven halten, bis sie versteigert werden. Es hat ja hier was von einer Markthalle, das bietet sich also geradezu an.“ Draußen hatte er mich schon auf eine Betonkugel von einem halben Meter Durchmesser hingewiesen, die man den Sklaven als Gewicht an ihre Fußketten hängen könnte.
Der alte Schlachthof ist der letzte Zipfel des Bezirks Prenzlauer Berg, umgrenzt wird er aber von den Bezirken Friedrichshain und Lichtenberg. So liegt er mitten in der Stadt, wo Schlachthöfe nichts zu suchen haben, aus hygienischen Gründen, die der Mensch im Zivilisationsprozeß schätzen lernte. Berühmt ist der Schlachthof, weil Alfred Döblin ihn in seinen epischen Bericht über Berlin aufnahm, wo er unter der Überschrift „Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh; wie dies stirbt, so stirbt er auch“ die Schlachtung von Schwein, Stier und Kalb unter Berücksichtigung von Metaphysik und Theologie aus der Perspektive des Schlachtviehs beschrieb. Diese Zeiten sind vorbei, nun soll hier gebaut werden: Wohnungen, Park, Gewerbeflächen, Markthalle, denn es geht dem Menschen wie dem Vieh, er möchte es warm haben und auch was zu futtern. Und manche haben es gern, wenn mit ihnen das angestellt wird, was der Tierschutzbund ahndet, wenn es dem Vieh zugefügt wird.
Jenseits der Thaerstraße gibt es verschiedene Gewerbebetriebe auf dem Gelände. (Im Baumarkt dort hat sich Michael kürzlich eine Kette für vier Mark fünfzig den Meter gekauft.) Die Bewag hat ein Spannwerk, es arbeiten 1.200 Menschen hier. Die alten Rinder-, Schweine-, Hammelhallen stehen unter Denkmalschutz und werden erhalten bleiben, die Darmschleimerei und die nebenan liegende ehemalige Lederfabrik Steinlein sollen aber abgerissen werden.
Im ersten Stock der Darmschleimerei gibt es Dutzende von niedrigen kleinen Räumen, die zum Flur hin verglast sind. Die Außenfenster beginnen 20 Zentimeter über dem Boden und enden in zirka 1,50 Meter Höhe. Die Farbe hängt von der Decke, an den Wänden kleben mattgemusterte Blümchentapeten. „Das waren Büros“, erklärt Michael, „hier wurde vor zwei Jahren noch gearbeitet. Hier könnte man Einzelstudios unterbringen, also Räume, in denen dann verschiedene Dinge praktiziert werden.“ Was für Dinge? „Erziehung mit dem Rohrstock zum Beispiel, Auspeitschen, an Ketten aufhängen – solche Dinge, auch ein Fotostudio. Ich stelle mir vor, daß man venezianische Spiegel anbringt. Durch die man von einer Seite durchschauen kann. Dann könnte man von außen sehen, was drin passiert, aber die Sklaven drin wüßten das nicht, die sähen bloß den Spiegel. Das würde die Demütigung noch vergrößern.“ Unten liegen in einer Schubkarre zig Päckchen mit Zollplomben. „Die kann man auch gut gebrauchen, mit denen könnte man die Ketten sichern.“
Er fühle sich „magisch angezogen“ von diesem Gelände, erzählt Michael, er komme jeden Sonntag her, und da er Masochist sei, mache er sich eben so seine Gedanken. „Im Moment ist Hamburg sozusagen die Hauptstadt der S/M-Szene, da finden die meisten Feten statt. Berlin kommt erst an zweiter Stelle.“ Das gefällt dem Berliner gar nicht gut.
Wenn Michael von „uns Sadomasochisten“ spricht, dann meint er die Leute, die Kontaktanzeigen in der Rubrik „Harte Welle“ im Stadtmagazin aufgeben, über die er nach langem Suchen eine Frau mit den gleichen Vorlieben und im selben Stadium der Unerfahrenheit gefunden hat. Zwar liebe man sich nicht, aber man schlage sich mit wachsender Begeisterung. „Wir Sadomasochisten“ sind die Benutzer der Hamburger Mailbox, wo man sich austauscht und Rat sucht, wie zum Beispiel jene Ehefrau, die die Neigungen ihres Mannes eben nicht teilt und keine Lust hat, ihn ins Bett zu prügeln. Und es sind die anderen Abonnenten der Zeitschrift Schlagzeilen, in der die Phantasie um die Reitschülerin und den Pferdeknecht eine schriftliche Form findet, und wo der einschlägige Versandhandel für das multifunktionale Streckbett wirbt, das nach der Züchtigung „platzsparend eingeklappt“ werden kann.
Mir scheint, besonders viele „Gleichgesinnte“ kennt Michael nicht, und so gibt es auch keine „Bürgerinitiative S/M-Freizeitpark auf dem alten Schlachthof“, sondern er stromert meistens allein über das Gelände. Sein Bekannter „IM Brühwurst 3“, der ihn gelegentlich begleitet, teile nur seine Lust am Verfall, nicht die an der Peitsche.
Wir haben die Darmschleimerei verlassen. Michael weist über Brachland, auf dem offensichtlich vor kurzem Gebäude abgerissen wurden. „Die drei Hallen da vorn an der Landsberger Allee sollen auf jeden Fall erhalten bleiben, das ist auch im Bebauungsplan so vorgesehen. Die Halle 43 ist innen gefliest, die wäre ideal für die Freunde von Natursekt und Kaviar.“
Wir gehen jetzt in die Lederfabrik Steinlein. Das ist ein riesengroßes, äußerst unübersichtliches Gebäude, aus dem ich allein wahrscheinlich nicht mehr herausgefunden hätte. Den Bauch des Wals findet Michael gut geeignet für Zuliefererbetriebe. „Hier könnte ein S/M-Gründerzentrum für Handwerk und Einzelhandel entstehen. Eine S/M-Schmiede, in der Ketten und stabile Stahlmöbel hergestellt werden, könnte hier arbeiten. Eine Lederwerkstatt. Eine Maßschneiderei für Gummifetischisten. Utensilienhandel für Rohrstöcke, Peitschen, Fesseln. Die Redaktion der Schlagzeilen könnte aus Hamburg hierher übersiedeln. Und ganz wichtig fände ich ein Prüflabor, in dem die Utensilien auf ihre Verträglichkeit geprüft werden, Sicherheit ist schließlich das A und O beim Sadomasochismus. Es gab einmal Lederknebel, die mit giftigen Chemikalien behandelt waren; sowas darf natürlich nicht vorkommen.“ Die Thaerstraße wünscht er sich folgerichtig nach der Herausgeberin eines Sicherheitshandbuchs für S/M-Lesben in „Pat- Califia-Straße“ umbenannt.
In der Lederfabrik Steinlein kommen wir durch noch möblierte Büroräume, es sieht nach hastigem Aufbruch aus. Auf einem Schreibtisch liegt eine tote Blattpflanze, daneben steht eine halbvolle Dose mit Hautcreme. In einem Büro haben die Wände eine Schallschutzverkleidung. Ich frage Michael nicht, was ihm dazu einfällt.
Auf dem Rückweg erzählt er mir, daß er am Vorabend hier in der Nähe beim Fasching im SEZ war. Das ist kein einschlägiger Klub, sondern das große Sport- und Erholungszentrum an der Landsberger Allee. Frank Zander und Mungo Jerry seien aufgetreten. „Zwei Drittel der Männer waren als Frauen verkleidet, die wollen wahrscheinlich auch endlich mal Opfer sein. Für mich bedeutet das natürlich: Sklaven. Dafür waren aber zwei Frauen als S/M-Paar kostümiert. Fand ich interessant. Es greift um sich.“ Glaubt Michael.
Der Regen hat zugenommen, als wir wieder über das Tor klettern wollen. Draußen nähert sich ein Lieferwagen, vor dem wir uns verstecken. Als aber der Motor abgestellt wird und niemand aussteigt, treten wir beruhigt den Rückzug an. Im Sommer werden auf der Thaerstraße vielleicht Autos geputzt, aber bei diesem Wetter hat in diesem elenden Straßensumpf keiner was verloren, die genausowenig wie wir.
Eine Kette von aufgeweichten Hundehaufen zieht sich an der Gehsteigkante entlang. Ich solle mir nicht die Gummistiefel schmutzig machen, sagt mein Begleiter. Mir fällt ein, daß ich während der Schulzeit manchmal durch Abrißhäuser zog. Da war auch immer so ein Wetter. Es war auch immer Sonntag. Bloß schlug damals, was aus Langeweile unternommen wurde, bald in Entdeckerfreude und Interesse am Baumilieu um. Ich ziehe mir die Kapuze über den Kopf und trete in jede Pfütze extra mitten hinein.
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