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Rotkäppchen's Feuertanz

■ Postsozialistische Tips für Trinker und solche, die es werden wollen / Heute: Schmidt's Stullenstübchen

Wer arbeitslos ist oder einer einsamen Berufstätigkeit nachgeht und sich deswegen manchmal nach freundlich-kollegialen Mittagspausen sehnt, der wird sich im Schmidt's Stullenstübchen wohlfühlen. Kaum tritt man über die Schwelle, wird man in den Kreis imaginärer Kollegen und Kolleginnen aufgenommen. Zuerst wählt man am Selbstbedienungstresen ein Gericht und ein Getränk, das einem nette Serviererinnen später an den Tisch bringen. Im Angebot sind Sülze mit Bratkartoffeln, halbe Schmalzbrötchen für 90Pfennige, Kaffee für eine Mark oder großzügig eingeschenkte Jägermeister für 2.30DM.

Im Stullenstübchen stehen insgesamt sieben Tische, aber es ist relativ egal, an welchen man sich setzt. Besonders die Stammkunden wechseln häufig den Platz, damit sie einfacher mit den unbekannten Gästen Gespräche beginnen und ihnen interessierte, aber unaufdringliche Fragen stellen können. Ab und zu kommen Angestellte der benachbarten Einzelhandelsgeschäfte vorbei und holen terrinenweise dampfende Soljanka für die Belegschaften. In dezenter Lautstärke spielt eine Compactanlage Schlager ein, die stimmungsmäßig gut zum löwensenffarbigen Interieur passen. Die Einrichtung ist insgesamt zweckdienlich, ohne nüchtern zu sein, — das liegt vor allem am zerstreuenden Licht der kristallinen Hängeleuchter und an der leicht angedunkelten Holzvertäfelung.

Das Stullenstübchen vereint sich in die schönen Aspekte des Beisammenseins in einer Kantine unter Ausblendung all dessen, was den Aufenthalt an besagtem Ort in den wirklichen Arbeitswelten oft unangenehm macht. Keine Uhr mahnt zum Aufbruch, alles lädt zum Verweilen ein. Die Arbeitslosen helfen den Arbeitenden dabei, sich neue Entschuldigungen für Verspätungen auszudenken, was allen gemeinsam echt solidarische Freude bereitet.

Man kann das Stullenstübchen auch mieten, für Geburtstagsparties zum Beispiel. Etwa 14Tage vorher sollte man sich anmelden (Tel: 0372/5881310, tgl. geöffnet von 8 bis 24Uhr) Text und Foto: Dorothee Wenner

NEUEBAHNHOFSTR.32,1035BERLIN

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