Rot-Grün in NRW: Regierung auf Bewährung
"Regieren ist klasse", findet SPD-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft. Ein Gesetz hat sie noch nicht durch den Landtag gebracht. Der Politikwechsel lässt auf sich warten.
Zum Regieren musste Hannelore Kraft gezwungen werden. Noch im Juli wollte Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin dem Christdemokraten Jürgen Rüttgers die Düsseldorfer Staatskanzlei überlassen, wollte "aus der Opposition heraus verändern". Erst massiver Druck der Grünen und der auf die Bundesratsmehrheit schielenden Berliner Sozialdemokraten brachte sie an die Spitze ihrer rot-grünen Minderheitsregierung, die am Freitag seit 100 Tagen amtiert.
"Regieren ist klasse", sagt Kraft heute. Die 49-Jährige aus Mülheim an der Ruhr gilt spätestens seit ihrer emotionalen Rede vor den Angehörigen der Katastrophe der Loveparade als glaubwürdig, hat vergangene Woche den Vorsitz des Bundesrats übernommen und taucht im ZDF-"Politbarometer" unter den zehn beliebtesten PolitikerInnen auf. Dabei hat Kraft noch nicht ein einziges Gesetz durch den Landtag gebracht. Zwar verweist ihr Fraktionschef Norbert Römer stolz darauf, dass Rot-Grün noch nicht eine der bislang 59 Abstimmungen verloren hat - doch dabei handelte es sich oft nur um formelle Überweisungen an die Ausschüsse des Landtags.
Die Umsetzung der Wahlversprechen steht aus
Noch ist Krafts Kabinett eine Regierung auf Bewährung: Die Umsetzung der zentralen Wahlversprechen - sozialerer Kurs, mehr Bildungsgerechtigkeit - steht noch aus. Zwar hat Rot-Grün die Abschaffung der Studiengebühren zum Wintersemester 2010/11 ebenso versprochen wie ein Tariftreuegesetz, zwar öffnet die grüne Bildungsministerin Sylvia Löhrmann das sozial selektive dreigliedrige Schulsystem vorsichtig in Richtung längeres gemeinsames Lernen - und zieht so sogar die Christdemokraten mit, deren Fraktionschef Karl-Josef Laumann gerade von der Hauptschule Abschied nimmt.
Derzeit aber stecken SPD und Grüne mitten in den Verhandlungen über einen Nachtragshaushalt für das laufende Jahr. Mit fast neun Milliarden Euro neuen Schulden soll der zu einer Abrechnung mit der Vorgängerregierung werden: "Das ist die Abschlussbilanz von Schwarz-Gelb, keine Gestaltung von Politik", räumt Grünen-Fraktionschef Reiner Priggen ein.
Noch ist deshalb unklar, wie Rot-Grün den Nachtragshaushalt durch den Landtag bringen will - den 90 Abgeordneten von SPD und Grünen fehlt im 181 Sitze zählenden Düsseldorfer Landtag eine Stimme zur absoluten Mehrheit. CDU und FDP haben bereits eine Klage vor dem Landesverfassungsgerichtshof in Münster angekündigt, und die Linke fordert bis zur geplanten Verabschiedung im Dezember Nachbesserungen: "Die von Schwarz-Gelb beschlossene Abschaffung der Arbeitslosenzentren, die millionenschweren Streichungen im Landesjugendplan und beim Flüchtlingsrat werden nicht korrigiert", kritisiert der Finanzexperte der Linkspartei im Landtag, Rüdiger Sagel.
Eine Beschluss im regulären Haushalt 2011, den Rot-Grün erst im kommenden Sommer vorlegen will, reiche nicht, findet der Linke: "Spürbare Veränderungen kommen dann viel zu spät" - wie bei den Studiengebühren, die seine Partei spätestens zum Sommersemester abschaffen will.
SPD, Grüne und Linkspartei werden deshalb weiterpokern, drohen einander schon heute mit der Auflösung des Landtags. "Wenn wir den Haushalt nicht durchbringen, sind Neuwahlen wahrscheinlich", sagt der Grüne Priggen. "Wir fürchten Neuwahlen nicht", kontert Linkspartei-Fraktionschef Wolfgang Zimmermann mit Blick auf Umfragen, die seine Partei auch nach Abbruch der Sondierungsgespräche mit SPD und Grünen bei sechs bis sieben Prozent sahen.
In Düsseldorf kursieren deshalb noch immer Gerüchte über einen möglichen "Plan B", den Wechsel der SPD zur großen Koalition. Und den, streuen führende Grüne, könne die Linkspartei doch wirklich nicht wollen und drohen ihrerseits - mit Schwarz-Grün.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr