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■ Rot-Grün hat das Staatsbürgerrecht fundamental verändert. Doch das war erst der Beginn: Die eigentliche Arbeit fängt jetzt erst anDer lange Abschied vom Paternalismus

Deutschland, kurz vor der Jahrtausendwende. Im neuen Koalitionsvertrag liest man folgenden Satz. „Wir erkennen an, daß ein unumkehrbarer Zuwanderungsprozeß in der Vergangenheit stattgefunden hat.“ Hier zeigt sich wieder, daß Deutschland nicht umsonst als Land der „Dichter und Denker“ gilt. 40 Jahre Einwanderung, ein „Ausländeranteil“ von fast zehn Prozent – und dennoch: Realität ist nur, was von der Regierung auch als solche „anerkannt“ wird. Nach der Wirklichkeitsdekretierung: Schulterklopfen im neuen Kabinett, Applaus in den progressiven Teilen der Bevölkerung und bei den Migrantenverbänden. Die späte „Anerkennung“ wirkt letztlich absurd – dennoch kann man wohl kaum umhin, die beschlossenen Veränderungen in Richtung auf ein „modernes Staatsangehörigkeitsrecht“ ebenfalls zu beklatschen.

Allerdings scheint man in der neuen Regierung davon überzeugt zu sein, daß nun die eigentliche Arbeit schon erledigt sei. Nun soll alles weitergehen wie bisher. Das ist ein Irrtum, der sich rächen dürfte: Denn der Ärger fängt jetzt erst an.

Es gibt eine ganze Reihe von Anzeichen dafür, daß das Ausmaß des in Gang gesetzten Wandels nicht wirklich begriffen wird. So ist es doch ziemlich aussagekräftig, daß man sich nicht entschließen konnte, eine „Integrationsbeauftragte“ zu etablieren, wie Cem Özdemir vorschlug, sondern an der Bezeichnung „Ausländerbeauftragte“ festhält. Aber um welche „Ausländer“ soll die „Beauftragte“ sich denn angesichts der zu erwartenden Einbürgerungswelle eigentlich kümmern? Schließlich werden nun große Teile der „Fremden“ deutsche Bürger und können ihre Interessen prinzipiell selbst wahrnehmen.

Die „Ausländerbeauftragte“ ist ein anachronistisches Überbleibsel des liebgewonnenen Paternalismus – ebenso wie „Ausländerbeiräte“ und ein „Ausländergesetz“, welches Einwanderer zu Verwaltungsobjekten degradierte. Im übrigen erwies sich das deutsche Regelwerk bezüglich der Einwanderung im Vergleich zu anderen Ländern schon immer als erstaunliches Durcheinander: Insofern sollte man die Gelegenheit nutzen, jetzt mehr Kohärenz herzustellen.

Zudem müssen die Staatsbürgerrechtsänderungen auch in ein neues Verständnis von Verfassung eingebettet werden. Im Koalitionsvertrag ist davon überhaupt noch nichts zu spüren. Hier pflegt man implizit die bekannte ethnisch-vorpolitische Auffassung: Die Rede ist von „unseren Verfassungswerten“, zu denen sich die Einwanderer bekennen sollen. Durch die beschlossenen Umgestaltungen jedoch funktioniert die Verfassung nicht länger als eine Art Besitzstand der „Volkszugehörigen“. Daher wird auch Integration nicht heißen: „Wir“ bleiben einfach da, wo „wir“ sind, während sich die anderen in „unseren“ Staat quasi hineinducken. Letztlich muß der gesamte Charakter des Verfassungssubjektes jetzt neu ausgehandelt werden.

Bisher war Deutscher, wer nach Abstammung, Kultur etc. deutscher „Staatsangehöriger“ war: Als Bürger kam man somit einfach auf die Welt. Nun jedoch wird die Bürgerschaft nicht mehr als Erbschaft in Empfang genommen, sondern Staatsbürger müssen „gemacht“ werden. Das geschieht durch Erziehung, wie Innenminister Schily in einer Talkshow richtig bemerkte. Damit kann jedoch nicht die private Erziehung in der Familie gemeint sein, wie Konservative glauben, sondern jene in öffentlichen Institutionen wie der Schule. Mithin muß sich die bildungspolitische Diskussion nicht nur damit beschäftigen, ob die Schule richtig auf die berufliche Zukunft hin zugeschnitten ist, sondern auch, was sie Jugendlichen in bezug auf die aktive Teilhabe in einer Demokratie beibringt.

Auf diese Aufgabe sind die Schulen nicht einmal ansatzweise vorbereitet. Bislang haben sie aufgrund ihrer einseitigen Orientierung am fertigen „Inländer“ letztlich immer neue Generationen von „Fremden“ produziert – wie sich nicht zuletzt an den Sprachdefiziten bei Migranten und auch Aussiedlern zeigt. Wenig nachgedacht wurde darüber, wie eine staatsbürgerliche Identität aussehen soll, die auf einem gleichberechtigten Pluralismus und nicht auf (deutscher) Ethnizität beruht. „Staatsangehörigkeit“ heißt eben noch lange nicht Verfassungstreue – gerade die ausgesprochen „deutschen“ Jugendbewegungen im Osten sprechen da Bände.

Allerdings bedeutet Integration auch – und das wird gern übersehen – wirtschaftliche Eingliederung. Schon die Vertreter des Multikulturalismus waren oft der irrigen Meinung, nach einer Staatsbürgerrechtsänderung könne man alles andere getrost dem Markt überlassen. Der hat jedoch bislang eher für Desintegration gesorgt. Unter Einwanderern türkischer, griechischer und italienischer Herkunft ist die Arbeitslosigkeit etwa doppelt so hoch wie unter den Eingeborenen – besonders betroffen sind die 20- bis 35jährigen. Bedrohlich ist die Lage unter den „ausländischen“ Jugendlichen zwischen 16 und 20: Hier befinden sich 45 Prozent weder in einem schulischen noch in einem beruflichen Ausbildungsverhältnis. Diese „Dropouts“ arbeiten in wechselnden Jobs als Ungelernte und sind oft auf eine „Überlebenssubkultur“ angewiesen, die häufig am Rande der Illegalität operiert.

Das Thema soziale Ungleichheit landete in der bisherigen Einwanderungsdiskussion gewöhnlich ganz unten auf der Agenda: Schließlich handelte es sich ja um „Ausländer“. Zukünftig kann die Benachteiligung von formal gleichen Bürgern aufgrund von Ethnizität jedoch definitiv nicht mehr toleriert werden. Über Antidiskriminierungsregelungen für Unternehmen und über Maßnahmen im Sinne von „affirmative action“ sollte daher nachgedacht werden. Letzteres insbesondere in Anbetracht der Tatsache, daß die Ausbildungsbilanz des öffentlichen Dienstes hinsichtlich junger Einwanderer – wie könnte es auch anders sein? – zwei Drittel unter jener der freien Wirtschaft liegt.

Selbstverständlich werden zukünftig die Interessenvertretungen der Migranten in der Diskussion mehr Gewicht bekommen. Schließlich müssen sie nicht länger als Bittsteller auftreten. Dabei ist nach den Ausschlüssen der Vergangenheit, welche die Einwanderer aufgrund mangelnder Partizipationsmöglichkeiten vor allem auf die Pflege ihrer Ethnizität zurückwarf, auch mit einem angriffslustigen ethnisch-religiösen Lobbyismus zu rechnen. Streit wird es also in jedem Fall geben. Die neue Bundesregierung täte gut daran, sich nicht auf der Neuregelung der „Staatsangehörigkeit“ auszuruhen. Mark Terkessidis

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