Romanfragment: Der Unvollendete
20 Jahre nach dem rätselhaften Tod von Jörg Fauser: Die taz dokumentiert ein Stück aus seinem letzten, nie beendeten Roman "Die Tournee".
In der Nacht, als Harry einen kurzen Gang zum Bierstübchen machte, war der Himmel noch ganz klar, die Luft ein Frühjahrsversprechen. Aber Freitagmittag hatte es schon sieben Stunden geregnet, und es sah ganz danach aus, als werde es weiterregnen, ein kalter preußischer Landregen, der auf das undichte Dach der Veranda prasselte, unter dem die Amseln im Nassen missmutig palaverten, und wie eine Wand vor den Beeten im Garten stand, hinter der die frischen Setzlinge ersoffen.
Regen oder nicht. Harry machte sich stadtfein. Grauer Kammgarnanzug mit Weste, marineblaues Baumwollhemd mit feinen weißen Streifen, sein Lieblingsbinder, taubengrau mit kräftigen roten Punkten, und dann band er die frisch gewienerten schwarzen Halbschuhe mit den breiten, aufgesetzten Kappen zu - 25 Jahre alt, aber Qualität kam eben nie aus der Mode - und schritt ins Badezimmer, um einen Rasierschnitt abzupudern, als Ellie aus der Küche kam, wo sie die Mittage am Radio, am Telefon und an der Kaffeemaschine verbrachte, mit dem Sittich in Reichweite, den Zeitungen und der Flasche Mampe Eierlikör.
"Was hast du denn vor, Harry?"
Er tupfte eine Spur Eau de Cologne auf die Stelle, fuhr sich noch mit dem Kamm durch die Haare. Mit knapp 57 hatte er immer noch genug davon, und grau waren sie auch nicht alle.
"Zweiter Freitag im Monat", sagte er zu ihrem Spiegelbild. Wenigstens könnte sie mittags die Lockenwickler weghaben, dachte er. Aber lass sie. Sie hat ihren Frieden verdient.
"Ja und, Männe?"
"Na komm, Ellie. Du weißt doch, Abteilungssitzung."
Seit den Tagen, als er für das Ostbüro der Sozialdemokratischen Partei gearbeitet hatte, besaß Harry Lipschitz das Mitgliedsbuch der SPD, deren Ortsvereine in Berlin Abteilungen genannt werden. Es gab freilich auch eine andere Abteilung, für die Harry bis vor einigen Jahren Aufträge erledigt hatte; aber die hatte nie in öffentlichen Sitzungen getagt. Und weil Harry in jenen schon mythischen Tagen des Ostbüros seinen Hauptberuf in der Gegend der Potsdamer Straße ausgeübt hatte - auf der Potse, wo auch Ellie ihrem Gewerbe nachgegangen war -, war er stur Mitglied der 8. Abteilung der Schöneberger SPD geblieben, obwohl sie beide jetzt schon fünf Jahre in dem Häuschen in Buckow lebten, das Ellie geerbt hatte.
"Du warst doch schon über ein Jahr nicht mehr bei deinen Genossen", sagte Ellie kopfschüttelnd. "Warum denn ausgerechnet heute?"
Harry hätte das Badezimmer liebend gern verlassen - er war 53 Jahre Junggeselle gewesen und würde sich nie an ein Badezimmer gewöhnen, das einer Frau gehörte -, aber da stand Ellie, die dicke Ellie von der Potse, bei der Gartenarbeit in Buckow aufgeblüht zu Rubensformen, und versperrte den Weg. Er fingerte seine Gitanes aus der Westentasche und machte sich eine an.
"Wir müssen jetzt die Reihen schließen", sagte er dann.
"Das hättet ihr man machen sollen, bevor sie euch die Hosen ausgezogen haben, mein Süßer."
Politischen Diskussionen war Lipschitz - außer im engsten Kreis - immer aus dem Weg gegangen. Ein Mann tat, was er für richtig hielt, ob geschäftlich oder politisch, tat es im Stillen und ging seines Weges. Das war die alte SPD gewesen, so hatte sie getickt, jedenfalls da, wo Lipschitz seinen Beitrag geleistet hatte. Aber heute musste wohl alles ausgelaugt werden im Geschwätz, und dann noch mit Frauen wie Ellie, die nur übers Gemüt funktionierten, was ja ihr Schatz war - aber doch nicht in der Politik! Er hatte Ellie ohnehin im Verdacht, die Alternativen zu wählen - die haben doch recht, wenn ich mir meinen Garten anseh, Harry! - oder die CDU - der Diepgen erinnert mich an einen Freier, der sehr spendabel war, Männe! -, obwohl er sich mit Schaudern an den Abend erinnerte, als hohe Genossen mit Tränen in den Augen vor die Kameras getreten waren: Sieh mal, Harry, bei euerm Verein wird jetzt ja auch Gefühl gezeigt! Und er wütend abdonnern musste ins Bierstübchen, wo die ganze rechte Laubenpieperblase ihren Triumph begoss: Wehe den Besiegten.
"Außerdem muss ich auch mal wieder unter Leute", sagte Harry und putzte seine Brille mit dem dicken Ende seines Binders. Dazu musste er die Zigarette im Mundwinkel behalten, und als er sie rausnahm, spürte er wieder dieses Ziehen in der Schulter, das ihn schon die ganze Woche beunruhigt hatte. "Den ganzen Winter hier in der Bude gehockt, ich fühl mich ja wie eine von deinen rostigen Harken."
Sie sah, wie er sich die Schulter massierte. Ja, der arme Kerl muss mal raus, dachte sie. Logo. Wenn ich nur nicht immer diesen Kloß im Magen hätte, dass er wieder anfängt mit den alten Geschichten, dass ihn wieder einer ausnützt, nur weil er mal einen Tapetenwechsel braucht, dabei kennt er sich doch gar nicht mehr aus, weder auf dem Kiez noch bei der Abteilung, bei der, die nie in der Zeitung steht.
"Meine Harken sind nicht rostig", sagte sie, schob sich an ihn heran und legte einen Arm um ihn, ein halber hätte gelangt, so dünn war er. "Und du pass auf, Männe, ich will dich gesund wiederhaben. Lass den Schnaps weg und fahr Droschke. Und rauch nicht so viel, Süßer, du weißt doch, was der Arzt gesagt hat."
"Seit wann verstehen Ärzte was von Gesundheit? Und tu nicht so, als ob ich einen Job hätte. Ich geh eben zur Abteilungssitzung statt zum Kegeln."
Aber dass sie sich kümmerte, tat ihm doch gut. Dass sie sich kümmerte, war seine alte SPD gewesen, und jetzt, wo sie am Arsch war, hatte er sich zu kümmern. Er zog Ellie an sich, und obwohl sie schon Lippenstift aufgetragen hatte, gab er ihr einen Kuss.
Sieht doch wieder ganz passabel aus, die Potse", meinte der Taxifahrer, der zwar in Harrys Alter war, aber doch aus einer anderen Zeit stammte. Passabel, in der Tat; im Abschnitt vor der Bülowstraße präsentierte sich die Straße der Puffs und Kaschemmen, der Zockerbars und Nobelruinen jetzt als architektonischer Gelsenkirchener Neobarock, und zwischen Polsterzentralen und Supermarkt-Filialen klebten noch letzte Relikte aus der alten Zeit - Spelunken, Kebab-Läden, Spielcasinos - wie Schimmelflecken.
Und der Schimmel, dachte Harry, kommt doch immer durch.
In den Kutscherstuben blieb Harry erst mal in der Tür stehen, schüttelte den Regen aus seinem Trenchcoat und dem Pepitahut, den er seit neuestem wieder trug, und machte Bestandsaufnahme. An der Wand vor der Tür, die zum Versammlungsraum führte, und dem Tresen ratterten Spielautomaten, die er nicht erinnerte. Ebenso wenig die Palme, die vorn am Tresen stand und fast bis zur Decke reichte, war das nun eine Geste an die Dritte Welt? Die Tische glänzten neu, imitiertes Teak, spießig, aber solide, und jedenfalls gab es noch keine Neonstrahler, keine Alternativnuttchen, die Cocktails servierten, keine Pornofilme und keine Kokainhändler, obwohl die Typen, die an den Automaten herumspielten und am Tresen hockten und würfelten, auch nicht gerade wie gestandene Mitglieder aussahen.
Von denen war nur Erwin da, der alte Erwin, mindestens siebzig musste er jetzt sein, einer vom alten Schlag, der noch illegal gearbeitet hatte und in der Emigration gewesen war. Erwin saß in seinem alten schwarzen Wintermantel allein in der Kneipe - die Streuner zählten nicht - vor einem Wodka und runzelte die Stirn über seinen buschigen weißen Brauen, als er Lipschitz sah.
"Was führt dich denn her, Harry?"
Lipschitz hängte Mantel und Hut an den Haken, setzte sich und bestellte bei der Bedienung - einer neuen, die ihn nicht kannte - ein Bier und zwei Wodka.
"Abteilungssitzung", sagte er zu Erwin, "was sonst."
Der Alte musterte ihn scharf. "Wie lange warst du nicht mehr hier?
"Ich gehör doch nach Buckow", verteidigte Harry sich, "aber zu den Kleingärtnern passe ich nicht."
"Das kann ich mir vorstellen."
Die Getränke kamen. Sie prosteten sich stumm zu. Lass den Schnaps weg, hörte Harry Ellie sagen und trank den Wodka ex. Nach einem halben Jahr der erste, das musste so sein. Er zündete sich eine Zigarette an. Erwin rauchte nicht. Kam von den Naturfreunden, erinnerte Harry, war Nichtraucher und Nacktschwimmer.
"Ich habe vor, jetzt wieder öfter vorbeizusehen", sagte Harry. "Wir müssen aufpassen, dass der Laden weiterläuft."
"Dann solltest du aber in Zukunft dienstags kommen", sagte Erwin, "der Termin ist geändert. Dienstag, nicht Freitag. Hast du die Mitteilungen nicht bekommen?"
Harry schüttelte den Kopf. "Habs wohl übersehen." Ihm war, als fiele er in ein Loch. Tagelang hatte er diesen Auftritt geplant - da bin ich wieder, Genossen, auf mich könnt ihr zählen, wenn die Reihen geschlossen werden -, hatte sogar noch einmal in ein paar ollen Sachen geblättert, aus der großen Zeit, als er beim Ostbüro die Stalinisten bekämpfte: und dann falscher Termin, die ganze Aufregung umsonst. Er trank sein Bier, spürte sein Herz hämmern, manchmal fehlte ein Schlag, die Pumpe war auch aus dem Takt. Na komm, nu sind wir mal in der Stadt.
"Mach dir nichts draus", sagte Erwin. "Da sind jetzt die Jungen, die machen das auch ohne uns. Pflanz du nur deine Apfelbäume, draußen in Buckow."
Aber davon wollte Harry nun wirklich nichts wissen. "Die machen es ohne uns? Bauen aber mächtig Scheiße dabei, Erwin. So katastrophal haben wir noch nie dagestanden, seit ich dabei bin, und das ist schon lange her, weißt du. Ich komm ja aus dem Ostbüro. Da kämpften wir noch hart bandagiert."
"Vergiss das Ostbüro, Harry."
"Das passt wohl nicht in die neue Richtung, wie?"
"Und das seit zwanzig Jahren, Harry. Wenn die Partei so langsam wäre wie du, säßen wir noch immer mit 30 Prozent da."
"Soweit ich sehe, sind wir wieder auf dem besten Weg dazu."
"Wir müssen uns eben der neuen Zeit öffnen, Harry. Das kostet Nerven, aber selbst die Russen machen es. Russland wird sozialdemokratisch, und du kommst noch mit dem Ostbüro an!" - "Ich lebe an der Mauer, Erwin, ich sitze da jeden Tag und seh nach drüben, aber ich seh nicht, dass der Osten sozialdemokratisch wird."
Sie hatten ihre Stimmen erhoben, saßen da und schrien sich fast an, und die Jungs an den Automaten starrten rüber. Mensch, die kloppen sich gleich!
"Haut mal nicht so auf den Putz, ihr beiden Opas", mahnte die Bedienung.
"Ich dachte, das ist hier ein Parteilokal", sagte Harry.
"Dienstagabend nebenan", sagte die Bedienung.
"Wir nehmen noch zwei Wodka, Gudrun", sagte Erwin und rieb sich die Hände. "Bei dem Regen müssen Opas Wodka trinken und sich über den Sozialismus streiten, damit die Durchblutung stimmt."
"Aber nicht so laut", sagte Gudrun, "ihr vergrault mir sonst meine Gäste."
"Die können ruhig zuhören, statt sich das Hirn mit ihrer Musik wegzupusten."
"Die haben wenigstens ihren Spaß", sagte Gudrun zu Harry, "ihr mit eurer Politik, ihr seid doch wie zwei alte Köter, die sich um einen abgenagten Knochen streiten."
Vorabdruck aus Jörg Fauser: "Die Tournee". Der Roman erscheint als Band 9 der Jörg-Fauser-Edition Ende August im Alexander Verlag Berlin
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