Romanfiguren in Krisenzeiten: Dos kleine Menschele
Um 1930 machten Hans Fallada und Ilja Ehrenburg „kleine Leute“ zu Protagonisten großer Romane. Oft bleibt ihnen nur subversiver Witz.
Der „kleine Mann“, das sind immer die anderen. Da ist der „kleine Mann“ ganz Kleinbürger. „Die Halbsatten sind diejenigen, die oft noch mehr hungern als alle anderen, die es aber nicht zugeben wollen. Es sind die miserabel ‚Bessergestellten‘, die Angestellten, Handwerker, Beamten, Ladenbesitzer usw., III. Klasse Nichtraucher, die davon nichts wissen wollen, dass sie die Schlechtergestellten sind.“ Das beobachtete Joachim Schumacher 1936, und wenn man über die gegenwärtigen Erfolge des Rechtspopulismus spricht, sollte man sich diese Erkenntnis vergegenwärtigen.
Hans Falladas „kleiner Mann“ bildet die Ausnahme von dieser Regel. Der Autor schaute nicht von oben herab auf seine kleinen Leute. Der große Erfolg seines Romans „Kleiner Mann – was nun?“ zeigte, dass es Fallada gelungen war, die Ohnmachtserfahrungen vieler Menschen in den Krisenjahren nach 1929 in Worte zu fassen.
Eben ist Falladas Weltbestseller erstmals in der Originalfassung erschienen. Sie ist gut ein Viertel länger als die Version aus dem Jahr 1932. Einige größere Passagen, aber auch manche Details wurden wohl aus Rücksichtnahme auf die angespannte politische Lage am Vorabend der Machtübernahme durch die NSDAP aus dem Manuskript getilgt.
„Mit uns kleinen Leuten machen sie, was sie wollen“, sagt Johannes Pinneberg schon auf Seite drei. Johannes Pinneberg und seine Frau Lämmchen, eben Eltern geworden, versuchen sich durchzuschlagen. Er, als Konfektionist bei einem großen Berliner Warenhaus angestellt, wird unter dem brutalen Druck neu eingeführter Verkaufsquoten immer mutloser: „Er war ein Garnichts. Zeugnisse nützen nichts, Tüchtigkeit nützt nichts, anständig aussehen nützt nichts, Demut nützt nichts.“
Seine Arbeit hat kaum die Familie ernährt, nun wird Pinneberg auch noch arbeitslos, wie so viele andere. Als einer von vielen, als „Mikrobe“ sieht er sich auch: „Ach, er ist ja einer von Millionen, Minister halten Reden an ihn, ermahnen ihn, Entbehrungen auf sich zu nehmen, Opfer zu bringen, deutsch zu fühlen, sein Geld auf die Sparkasse zu tragen und die staatserhaltende Partei zu wählen. Er tut es, und er tut es nicht, je nachdem, aber er glaubt denen nichts.“
Gefängnisaufenthalt und Drogenentzug
Fallada hatte ein gutes Gespür für Mentalität und Psychologie seiner Figuren, die er mit großer Empathie beschreibt, vielleicht, weil er selbst einer von den kleinen Leuten war. Nach einem Gefängnisaufenthalt und Drogenentzug wieder auf die Beine gekommen, trat er in die SPD ein und fand Anstellung beim Rowohlt Verlag. Der junge Familienvater kaufte auf Abzahlung ein kleines Einfamilienhaus in Neuenhagen bei Berlin. Doch schon drohte der Absturz.
Aufgrund der Weltwirtschaftskrise wurde Rowohlts Hausbank zahlungsunfähig. Fallada wurde im September 1931 gekündigt, der Verlag konnte ausstehende Honorare nicht mehr zahlen. Einen guten Monat später begann der hoch verschuldete Schriftsteller mit dem Schreiben an seinem Roman „Kleiner Mann – was nun?“, den er innerhalb von vier Monaten beendete.
Seine Protagonisten erwarten von „denen da oben“ nichts, und sie haben recht damit: Man kann vieles über die „kleinen Leute“ sagen, aber dumm sind sie nicht. Das deutsche Bürgertum interessiert sich nicht für sie, (wenn es sie nicht verachtet), und ist schon dabei, mit den Nazis gemeinsame Sache zu machen. Johannes und Lämmchen Pinneberg stehen stellvertretend für die beiden großen sozialen Gruppen, die man gemeinhin zu den „kleinen Leuten“ zählt. Lämmchen ist die Tochter eines klassenbewussten Arbeiters. Sie lässt sich die Zuversicht nicht nehmen und sympathisiert mit den Kommunisten. Lämmchen, das ist das deutsche Proletariat.
Hans Fallada: „Kleiner Mann – was nun?“ Ungekürzte Neuausgabe. Aufbau, Berlin 2016, 557 Seiten, 22,95 Euro
Ilja Ehrenburg: „Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz“. Die Andere Bibliothek, Berlin 2016, 408 Seiten, 42 Euro
In Johannes Pinneberg wiederum sehen wir uns einer Figur gegenüber, über die man nicht mehr spricht, obwohl sich der Diskurs von 1968 ff. so ausführlich mit ihr beschäftigt hat: Es ist die Figur des deutschen Kleinbürgers, dessen Mentalität so universell geworden ist, dass sie den Diskursrahmen setzt und solchermaßen unsichtbar geworden ist. Das Kleinbürgertum hat 1932 seine starke Stellung längst verloren, nur die alte Abhängigkeit, erst von den Feudalherren, dann vom Bürgertum, nun von den Konzernen, ist seinen Nachfolgern geblieben.
Der Kleinbürger ist Angestellter geworden, in der Krise verliert er seine Zukunft: „Es ist ganz umsonst, dass man denkt, ein neues helleres, sonnigeres Leben fängt an, es geht immer so weiter, wie bisher“, verzweifelt Johannes Pinneberg. Er und seine Frau Lämmchen versuchen sich Selbstachtung und Würde nicht nehmen zu lassen, auch wenn sie nun in einer Gartenlaube vor der Stadt leben müssen, weil das Geld für eine Wohnung nicht mehr reicht. „Ach, man müsste eine richtige große Wut kriegen, alles in den Klump schlagen, nicht nur diesen feigen kleinen Hass.“ Pinneberg ahnt, dass große Wut allein nicht reicht. Was nun?
Nazi wird er nicht
Bei Menschen wie Pinneberg, die für einfache Antworten zu klug sind, richtet sich der Zorn nach innen. Typisch für den Kleinbürger, jenen Angehörigen der schwankenden, verhinderten, aber auch „experimentellen Klasse“ (Enzensberger), diesen Menschen mit biegsamem Ich, dessen Wesenskern laut Marx der Widerspruch ist. Fallada porträtiert seinen Pinneberg als Sohn eines schwachen Vaters und einer starken Mutter. „Pinneberg ist weich, wenn sie auf ihn drücken, verliert er die Form, er geht auseinander, er ist nichts, Brei.“ Johannes Pinneberg schwankt hin und her, aber eins weiß er: Nazi wird er nicht.
„Ist man etwas dumm, dann geht man zu den Nazis und glaubt, irgendwas würde dadurch anders, wenn man die Juden totschlägt“, denkt Pinneberg. Ist man dagegen „gläubig und viel widerstandsfähiger“ und traut sich zu wehren, wie Pinnebergs Frau Lämmchen, dann geht man zur KPD „und versucht es anders“, schreibt Fallada.
Doch die KPD analysierte weder die politische Lage richtig, noch stellte sie rechtzeitig den Kampf gegen die „Sozialfaschisten“ von der SPD ein. „Die Regierungsparteien und die Sozialdemokratie haben Hab und Gut, Leben und Existenz des werktätigen deutschen Volkes meistbietend an die Imperialisten des Auslands verkauft“, hieß es in der „Programmerklärung zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes“ der KPD von 1930.
Lauterbach, einer der Kollegen Pinnebergs, ist Nazi. Lauterbach „war teutsch, zuverlässig, ein Feind der Juden, Finanzämter, Welschen, Reparationen, Sozis und der KPD“. Außerdem hat Lauterbach „einen Horror, eine wahre Angst vor Frauen“. Es ist erstaunlich, wie schnell man eine Liste zusammenbekommt, die ins Heute passt: Der Rechtspopulist ist teutsch, zuverlässig, ein Feind der Muslime, Finanzämter, EU, Brüsseler Bürokratie, Sozis und linksversifften 68ern. Und natürlich ist er gegen den Genderwahn.
Der organisierte Hass auf das Elend
Der staatlich organisierte Hass auf das Elend ist es, der Pinneberg am Ende kaputtmacht. Die Polizei verjagt ihn aus der Friedrichstraße: „Heruntergestoßen haben sie mich vom Bürgersteig.“ Pinneberg ist einer von denen geworden, deren bürgerliche Rechte außer Kraft gesetzt werden können, weil man sie nur noch als gefährlich, asozial, unnütz kategorisiert.
Das ist eine Erfahrung, die Lasik Roitschwantz ständig macht. Ilja Ehrenburgs Roman „Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz“ erschien 1928 im russischen Original in Berlin und noch im selben Jahr auf Deutsch beim Rhein-Verlag. Vor Kurzem wurde er in der Originalübersetzung von Waldemar Jollos in der „Anderen Bibliothek“ wiederveröffentlicht.
Roitschwantz, ein jüdischer Schneider aus der weißrussischen Stadt Homel, wird durch die bösartige Denunziation einer Sowjetbürgerin aus seinem kleinbürgerlichen Leben katapultiert. Eine Odyssee durch Europa und seine Gefängnisse beginnt. Roitschwantz ist das jüdische Pendant des „kleinen Manns“, er ist „dos kleine Menschele“, der moderne Nachfolger einer archetypischen Figur der jiddischen Literatur. Zugleich trägt er als Eingesperrter, Flüchtender, Umherschweifender die Signatur seines Jahrhunderts.
Last but not least ermöglicht Roitschwantz seinem Autor den satirischen Blick auf die moderne Welt. Roitschwantz gerät immer wieder in Schwierigkeiten, weil die Verhältnisse gar nichts anderes zulassen, aber auch, weil er zu vorwitzig ist: Roitschwantz fällt seiner Gewohnheit zum Opfer, „nachzudenken, über was man besser überhaupt nicht denkt“.
Kein Gott im Himmel
Dieser am talmudischen Denken geschulte jüdische Trickster durchschaut die philosophisch verbrämte Rohheit deutscher Patrioten genauso wie die Absurditäten der neuen sowjetischen Gesellschaftsordnung und ihre Verachtung des einzelnen Menschen: „Sie meinen, wenn man einen Menschen tötet und ihm dann ein jammerndes Siegel aufdrückt, als wäre er kein lebender Leichnam, sondern das Einmaleins einer wunderbaren Zukunft, dass dann Blut aufhört, Blut zu sein?“
Erst nach der Lektüre des „Roitschwantz“ fällt auf, dass Religion in Falladas „Kleinem Mann“ vollkommen abwesend ist. Sie ist für die Pinnebergs und die anderen Figuren offenbar so unwichtig, dass sie nicht einmal erwähnt wird. Auch Roitschwantz ist ein moderner Mensch, Gott im Himmel hält er für ausgemachten Schwindel. Aber kritisieren kann er die aus ihrem Glücksversprechen resultierenden menschenverachtenden Auswüchse der Moderne doch nur in Bezugnahme auf die alte jüdische Ethik, der das Leben eines Einzelnen so viel wert ist wie die ganze Menschheit.
Eine wesentliche Erfahrung des „kleinen Manns“ Pinneberg aber kennt auch das „kleine Menschele“ Roitschwantz nur zu gut: „Wir sind Blätter, und ringsum wütet der Sturm.“
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