Romanepos „Roter Flieder“: Flucht in eine andere Landschaft

Reinhard Kaiser-Mühlecker fächert mit seinem Romanepos „Roter Flieder“ eine bäuerliche Familientragödie auf. Er schlägt einen weiten historischen Bogen.

Sinnbild für die leisen Tragödien: Roter Flieder. Bild: dpa

„Roter Flieder“, der neue Roman von Reinhard Kaiser-Mühlecker, erzählt die leise Tragödie einer Familie, die sich über mehrere Generationen erstreckt, geschildert vom Rand der Geschichte, aus einem Winkel, von dem aus nicht das große Panorama aufgerissen wird, aber doch im Kleinen alle Dramen des menschlichen Seins entfaltet werden. Es ist eine epische Erzählung von Schuld und Sühne, von Aberglaube und Duldsamkeit – und vom Rhythmus der Zeit.

Alles beginnt mit einer Vertreibung, mit dem Bild eines rollenden Wagens, der dem Ungewissen entgegenfährt und auf dem der alte Goldberger und seine Tochter Martha wegziehen oder besser flüchten in eine andere Gegend rund um den schon aus einem früheren Buch von Reinhard Kaiser-Mühlecker bekannten Magdalenaberg. Es ist eine Voralpenlandschaft, agrarisch geprägt, kleinteilig. Diese Region spielt eine Hauptrolle in dem Roman.

Immer wieder entwirft Kaiser-Mühlecker weniger Landschaftsbilder als vielmehr Landschaftsstimmungen; er lässt wie nebenbei die Jahreszeiten zwischen den Absätzen und Kapiteln wechseln, die Natur ihre Farben und die Welt, ohne dass man es zunächst gleich merkt, ihre angestammte Ordnung.

Ein stiller Krieg

Nichts bleibt und doch geht alles immer weiter, das lässt sich bei Kaiser-Mühlecker erspüren – in der Art und Weise, wie er erzählt. Wovon er erzählt, ist das langsame Verstummen von Menschen, die sich noch in einem Traditionszusammenhang begreifen, als dieser sich schon aufzulösen beginnt. Goldberger hat, wir ahnen es zunächst nur, Schuld auf sich geladen; er war ein Nazi, aber geredet wird darüber nicht. Als sein Sohn Ferdinand aus dem Krieg zurückkehrt, überschreibt er ihm den Hof – zwischen dem Alten und dem Jungen herrscht gleichsam weiterhin ein Krieg, der still ausgefochten wird, mit Blicken und Gesten, die auf eine schier unüberwindliche Fremdheit verweisen.

Es sind große Schweiger und Verschweiger, die der 30-jährige Reinhard Kaiser-Mühlecker in seinem vierten Roman mit einer atemberaubenden Eindringlichkeit zu Wort kommen lässt. Wir blicken in sie hinein wie in ein offenes Buch; aber einander bleiben sie verschlossen.

Das ganze spielt in einer dörflichen Welt, die durchaus auch eine feindselige ist: Als Ferdinand Maschinen kauft und die anderen Bauern ihm den Erfolg neiden, wird die Familie erst einmal geschnitten. Man darf nicht anders sein, nichts anders machen, und man sollte nicht auffallen – das ist das ungeschriebene Gesetz. Diese Heimat muss man sich erobern, und es braucht Zeit, um in ihr heimisch zu werden.

Die Zeit mit den Menschen verstehen

Kaiser-Mühlecker dringt auch in die älteren Zeitschichten, die Nachkriegsjahre, die sechziger Jahre, nicht als Historiker, sondern als Empathiker: Er versteht die Zeit aus den Menschen heraus, hat, selbst aufgewachsen und lebend in diesem Landstrich, die Erzählungen und die Stimmen der Dorfbewohner im Ohr. Und er begreift selbst noch ihre Verkümmerung und Sprachlosigkeit als Ausdruck eines tief eingelagerten Glaubens an ein unhinterfragtes Weiter, das als Schicksal begriffen wird.

Ferdinand heiratet, eine Tochter und zwei Söhne werden geboren, und die Brüder sind wie biblische Figuren in eine archaische Konkurrenzsituation versetzt: Der eine, Thomas, soll als Thronfolger den Hof übernehmen; der andere, Paul, wird aufs Internat geschickt – eine Entfremdung und ein Bruch in der Kontinuität, der Folgen haben wird. Reinhard Kaiser-Mühlecker lässt dabei all seinen Figuren, so unnahbar sie sein mögen, die gleiche Sympathie zukommen. Oder besser: Gerechtigkeit.

Paul ist vielleicht die spannendste, vielschichtigste, auch zwiespältigste Figur, weil er herausgerissen wird und dadurch eine größere Distanz erfährt – auf gewisse Weise auch zum Ausgestoßenen wird, ebenfalls ein Vertriebener. Und von Anfang an ist dieses Thema der Vertreibung und auch der Schuld in diesem Buch präsent, es steuert das Handeln der Helden, es lässt sie auf eine sehr verworrene Weise an ein göttliches Gelenktsein glauben, sie ergeben sich ihrem Los, und nur manchmal lehnen sie sich auf.

Auch die Liebe, die ihnen zuweilen widerfährt, ist so eine Auflehnung, die doch stets in eine Lethargie überzugehen scheint: Kaiser-Mühleckers Protagonisten werden immer wieder von ihrem Alltag demütig gemacht, zurechtgestutzt. Die Geschichte dieser Familie scheint mit Thomas, Paul und Maria jedoch an ihr Ende zu kommen – alle drei bleiben, das glauben sie zumindest lange, kinderlos. Und Kinderlosigkeit wird in dieser durchaus nach archaischen Mustern funktionierenden Welt begriffen als Fluch, als Strafe für eine Erbsünde.

Es bedarf eines solchen Glaubens, solcher Rituale und Traditionen, um die Mühsal gleichmütig ertragen zu können. Der Rhythmus des Lebens wird dadurch, aber auch durch die Natur und die Jahreszeiten vorgegeben. Kaiser-Mühlecker nimmt diesen Rhythmus in seiner Prosa auf, im Schildern von Alltag und in der Wiederholung von Beziehungsmustern über die verschiedenen Generationen hinweg. Man spürt förmlich das langsame Fließen der Zeit. Bis sich dann wieder etwas beschleunigt, oder man den Eindruck hat, es würde sich etwas beschleunigen, vielleicht weil jemand stirbt. Kaiser-Mühlecker hat ein feines Gespür für diese Zeitverschiebungen, für Bewegungen und Räume, für die Figuren und ihre Innenleben, er führt uns behutsam, lautlos und gleichmäßig durch ein halbes Jahrhundert.

Wankende Tektonik

Am Ende scheint der Rhythmus sich dann zu ändern, vielleicht gerät sogar etwas aus dem Takt. Die Tektonik des Romans wird durch eine lange, in Bolivien spielende Episode ein wenig ins Wanken gebracht: Paul verschwindet, er lebt in einem kleinen südamerikanischen Nest, und obwohl es das andere Ende der Welt ist, erinnert ihn diese Provinz immer wieder an Rosental, an seine Herkunft. „Woran er dachte, war nichts anderes als sonst; nur bekamen die Bilder nun eine andere Dimension. Das Jahr über blätterte er in seinen Erinnerungen, die gewissermaßen nur noch Partituren waren; er konnte sie lesen, aber sie klangen nicht; jetzt, als hätten sie dieses äußeren Impulses bedurft, griffen die Musiker zu ihren Instrumenten.“

Es ist dieser einnehmende Ton, der über 600 Seiten fasziniert, ein Buch trägt, das schließlich doch noch einmal eine ganz andere Wendung nimmt und etwas Versöhnliches zumindest kurz aufblitzen lässt. Ein Ton, der von einer schönen Notwendigkeit zeugt: So natürlich wie Atmen erscheint diese Prosa, so rhythmisch und verlässlich ist sie, als müsste wirklich eins aufs andere folgen, ein Wort aufs nächste, als würde ein Satz den anderen bedingen. Zugleich ist das äußerst kunstvoll, schon die Landschaftszeichnungen in ihrer atmosphärischen Genauigkeit und das dichte Motivgeflecht weisen darauf hin, etwa der titelgebende rote Flieder, der den Figuren Heimat bedeutet und auch eine Wahrnehmungsverschiebung: denn rot ist der Flieder nicht wirklich, er erscheint den Figuren nur so.

Man muss Reinhard Kaiser-Mühleckers Bücher mit Geduld lesen. Seine Sprache verlangt Aufmerksamkeit und Bedächtigkeit, und doch ist, was er erzählt, von großer Verstörungskraft. Das war so in seinem in bäuerlichem Milieu angesiedelten Debüt „Der lange Gang über die Stationen“ von 2008, das als Heimatliteratur ohne Ruch von falscher Idylle oder gar Gemütlichkeit begeistert aufgenommen wurde. Das war so in seinem Roman „Magdalenaberg“ aus dem Jahr 2009 und in „Wiedersehen in Fiumicino“, letztes Jahr erschienen. Schon in diesen ersten Werken hat der 30-Jährige bewiesen, wie er sich in seine Figuren einzufühlen vermag.

In dieser Ernsthaftigkeit und Unbedingtheit, auch in seinem poetischen Programm der Langsamkeit und Naturemphase erinnert er an Peter Handke oder auch an Hermann Lenz; und vielleicht gab es lange keinen Autor mehr, der so unbeeinflusst von den Moden und Eitelkeiten des Literaturbetriebs sein Schreiben verfolgt: Seine Texte greifen einen, weil sie etwas Tastendes und Suchendes haben, auf eigentümliche Weise an; kommen, obwohl sie im Abgelegenen spielen, sehr nah. Vielleicht werden sie deshalb auch länger Bestand haben als vieles, was sich als vermeintlich relevante Gegenwartsprosa aufdrängt.

In „Roter Flieder“ geht Kaiser-Mühlecker einen Schritt über das hinaus, was wir bisher von ihm lesen konnten, auch formal: Zum ersten Mal lässt er keinen Ich-Erzähler sprechen, sondern nimmt eine Vogelperspektive ein. Der Roman wird dadurch epischer, die Wahrnehmung viel umfassender, die einzelnen Figuren in ihren Idiosynkrasien und Verletzungen und ihrem Fühlen greifbarer. Der Blick erfasst mehrere Dimensionen, verändert sich und kann die Richtung wechseln, geht nach außen und innen.

Literatur ist für Kaiser-Mühlecker per se die Abweichung von etwas schon Vorgesehenem. Die Zumutungen des Vorgegebenen werden so zwar nicht aufgehoben. Aber doch brüchig. Und auf diese Weise durchsichtig, erträglich und vielleicht sogar schön.

Reinhard Kaiser-Mühlecker: "Roter Flieder". Hoffmann und Campe, Hamburg 2012, 619 Seiten, 24,99 Euro
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