Romane von Männern über Männer: Seelenerkundungen starker Egos
Exzess und Katzenjammer oder lieber Passivität und Beziehungsarbeit? Thomas Glavinic und Michael Kumpfmüller erzählen von Erziehung.
Schach spielen. Saufen, bis man im Krankenhaus aufwacht (kann acht Flaschen Wein lang dauern). Eine Waffe besitzen. Einen BMW kaufen, um das Koks zum Teufel zu jagen. Kampfsport lernen. Zu Fuß zum Südpol laufen. Sex mit allen möglichen Frauen haben, aber von der einen träumen. Destilliert man die Tätigkeiten, die Thomas Glavinic in seinem großen neuen Roman „Der Jonas-Komplex“ schildert, scheint das durch sie beschriebene Männerbild auf fast lustige Weise aus einer anderen Zeit zu stammen. Als Männer noch Schwertfische jagten und über ihre Kriegsabenteuer Bücher schrieben.
Für einen Hemingway aus dem 4. Wiener Bezirk ist Glavinics Icherzähler, der in vielen Punkten mit seinem 1972 in Graz geborenen Autor identisch scheint, jedoch zu brüchig und interessant gespalten. Mit dieser Botschaft fällt er geradezu hemingwayesk ins Haus: „Wer wir sind, wissen wir nicht. Beim letzten Durchzählen kam ich auf mindestens drei Personen, die jeder von uns ist. Erstens die, die er ist, zweitens die, die er zu sein glaubt, und drittens die, für die ihn die anderen halten sollen.“
Aus drei verschiedenen Perspektiven setzt sich auch der „Jonas-Komplex“ zusammen: In lose verflochtenen Erzählsträngen schildert Glavinic´literarisches Alter Ego das Jahr 2015 zwischen Arbeitsstipendien und Drogenexzessen, das Jahr 1985 aus der Sicht eines 13-Jährigen in der österreichischen Provinz – des jungen Glavinic, vermutlich – sowie neue existenzielle Abenteuer seiner Figur Jonas, eine Fortsetzung seines letzten Romans, „Das größere Wunder“.
Auch Michael Kumpfmüller hat ein Männerbuch geschrieben. „Die Erziehung des Mannes“ strebt, stärker als Glavinic’ „Jonas-Komplex“, nach dem Exemplarischen, hier für die Generation der Babyboomer, der der 1961 geborene Autor selbst angehört. Dennoch lohnt sich der Vergleich. Beides sind Seelenerkundungen starker Icherzähler, und das ist nicht die einzige Parallele: So gliedert sich auch die „Erziehung“ in drei Teile, die allerdings geradezu psychoanalytisch aufeinander aufbauen mit Fallschilderung, Tiefenbohrung und dem Versuch einer Synthese.
Beziehungsreife durch Kinder
Der angehende Komponist Georg begegnet der Lehramtsstudentin Jule: Anlass, sich aus einer langjährigen unglücklichen Liebe zu lösen. Oder lösen zu lassen. Denn gerade seine Beziehungen zu Frauen scheinen dem Icherzähler vor allem zu widerfahren. Je passiver Georg, desto aktiver Jule: Auf ihre Initiative heiraten sie und bekommen drei Kinder. Doch die Ehe ist unglücklich, Jule neidisch auf Georgs Erfolge als Künstler. Als Georg sich in seine jüngere Kollegin Sonja verliebt, beginnt ein zermürbender Rosenkrieg.
Teil zwei blendet zurück in Georgs Kindheit und Jugend: Im Mittelpunkt steht die Beziehung zu seinem Vater. Ein unberechenbarer, kritikresistenter Patriarch alter Schule, Generation Kriegskind, der ständig seine Frau betrügt, die ihm dennoch dabei hilft, den heilen Familienschein zu wahren. Besonders eindringlich schildert Kumpfmüller eine Ohrfeige, die der Vater Georg verpasst, obwohl er dessen Cousin meint. Danach zwingt die ganze Familie den Jungen, in völliger Umkehrung der Verhältnisse, sich beim Vater zu entschuldigen: „Es ist nicht angenehm, das zu sagen, aber wir [Georg und seine Schwester] haben beide etwas Hündisches in unserem Wesen.“
Thomas Glavinic: „Der Jonas-Komplex“. Fischer, Frankfurt a. M. 2016, 748 S., 24,99 Euro.
Michael Kumpfmüller: „Die Erziehung des Mannes“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016, 320 Seiten, 19,99 Euro.
Im Zentrum des dritten Teils stehen die zeitlich penibel zwischen den Eltern aufgeteilten Kinder, die Georg liebevoll und in ihrer Unterschiedlichkeit präzise porträtiert. Gerade in der schmerzhaften Auseinandersetzung mit ihren pubertären Ausrastern lernt er sich abzugrenzen, ohne deshalb die Beziehungen zu beenden – auch wenn es ihm misslingt, dabei noch die Liebe zu Sonja zu retten. Erst durch ihre Kinder gelangen die Babyboomer zur Beziehungsreife: Das ist die durchaus bewegende These, die sich aus Michael Kumpfmüllers manchmal allzu ernsthafter Männerseelenerkundung herausschält.
Sie trifft bis zu einem gewissen Grad auch auf Thomas Glavinic´„Jonas-Komplex“ zu. Der inmitten aller möglicher Indiskretionen mit Klarnamen nur „das Kind“ genannte Sohn verschafft dem Icherzähler reine und tiefere Glücksgefühle als Sex, Koks und Alkohol zusammen, und obschon das angelegentlich fallende Wort „Verantwortung“ über weite Strecken des Buches keine große Rolle spielt, zumal „das Kind“ meist bei „der Mutter Teresa unter den Exfrauen“ lebt, trägt es einiges dazu bei, dass sich gegen Ende des Buches und Jahres hin eine längere Strecke der Nüchternheit andeutet.
„Nackt auf dem Kolo tanzen“
Auch Glavinic´Icherzähler wiederholt Strukturen aus seiner Kindheit. Während Georg mit Jule die Beziehung zu seinem Vater nachspielt, reinszeniert der Wiener Autor seine Vernachlässigung als Teenager, nur dass er es jetzt selbst ist, der sich vernachlässigt. Im Strang „Weststeiermark“ erzählt sein 13-jähriges Ich, wie hochfliegende Schachgroßmeisterpläne das unberechenbare Leben mit seiner trinkenden Mutter „Uriella“ erträglich machen. Vom kroatischen Vater bleiben ihm die meiste Zeit des Jahres nur ein paar T-Shirts zum Schnuppern. Wenn es überhaupt verlässliche Größen in seinem Leben gibt, sind es die Großeltern, Milchbrote, nerdige Hobbys und Außenseiterfreunde. Ein fragiles Netzwerk, aber stark genug, um den hellwachen Jungen zu tragen.
Das erwachsene Leben des inzwischen erfolgreichen Schriftstellers gleicht indessen mehr und mehr einer Farce. Allerdings einer, von der zu lesen rasenden Spaß macht, insbesondere, wenn er besoffen und koksgeil durch Wien turnt und nie um eine Pointe oder Lebensweisheit verlegen ist. Eine von unzähligen Kabinettstückchen aus dem Nachtleben ist die Wiederbelebung eines gestürzten Gastes mithilfe zweier Adrenalin-Pens (“Kennst du dich mit so was aus?“ „Ich kenne mich mit allem aus, weil ich gerade auf der Toilette war“), von denen der bedröhnte Autor sich erst mal selbst einen in den Finger rammt. Am Ende des Rausches wartet zuverlässig der Katzenjammer: „Ich verwüste mein Leben. Ich blase meine Tage in einen Ventilator. Was für ein Verbrechen an mir selbst.“
Während bei Kumpfmüller alles Beziehung ist und darauf bezogen bleibt, hofft die betäubungssüchtige Glavinic-Figur: „Alleinsein hilft fast bei allem“, und singt doch ein beständiges Lob der Freundschaft, auch zu fabulierten oder längst verstorbenen Gestalten – eben jene Art von Freundschaften, die einen einsamen kleinen Jungen vor dem Abgrund bewahren. Anders formuliert: Wo Kumpfmüllers Georg erzogen wird, muss Glavinic’ Ich sich selbst erziehen. Und das ist, auch im Fall der märchenhaften Jonas-Figur im dritten Strang, immer ein Projekt auf Leben und Tod.
Beide Wege sind kein Zuckerschlecken. Weder der emanzipatorische in die Freiheit, den Kriegskindersohn Georg stufenweise erklimmt, noch die Errichtung einer eigenen inneren Ordnung und Autorität. Kaum erstaunlich, dass sich in beiden Büchern der Grad an Freiheit im Erzählton niederschlägt: Kumpfmüllers Georg bleibt, aller selbsterforschenden Dringlichkeit zum Trotz, stets streng, elegisch und kühl. Glavinic´„Komplex“ dagegen vibriert nur so vor handfestem Witz, Selbstironie und Vitalität mit manisch-depressiven Ausschlägen vom dadaistischen Nullpunkt bis zur ganz großen Erleuchtung: „Du tanzt gerade nackt Kolo auf dem Naschmarkt. Es ist dir alles zuzutrauen.“ Wie sollte es anders sein bei einem Vater, der einem solche SMS schickt.
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