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Roman von Sara MesaDer Archipel Familie

Die spanische Autorin Sara Mesa beschreibt in ihrem Roman Mechaniken der bürgerlichen Familie. Sie folgt Spuren, die die autoritäre Erziehung hinterlässt.

Die spanische Autorin Sara Mesa Foto: Sonia Fraga

Der Überlieferung nach war es Friedrich Engels, der die Familie als Keimzelle der bürgerlichen Gesellschaft benannte. Heute wird dieses Bild gerne von Apologeten derselben herangezogen, um traditionellen Familienmodellen einen Adelstitel zu verleihen.

In Wirklichkeit meinte Engels, dass die Familie die kleinste soziale Einheit ist, in der sich gesellschaftliche Strukturen, Herrschaftsverhältnisse und ökonomische Bedingungen widerspiegeln. Die Familie ist Bollwerk gegen die Härten der Klassengesellschaft und die Wohnung ihre Trutzburg, aus der man die Welt durch schmale Schießscharten hindurch betrachtet.

Auch in Sara Mesas neuem Roman scheint nach außen alles wie bestellt: Ein prinzipienfester Humanist als Vater, der statt Marienbildern Gandhi an der Wohnzimmerwand verehrt. Eine Mutter, die mit der dem Vater abgehenden Fürsorge für die Anerziehung der von ihm verlangten Tugendhaftigkeit sorgt. Eine Familie, die, wie um ihre Rechtschaffenheit noch zu unterstreichen, die Nichte der Mutter adoptiert, als diese zur Waise wird.

Zwei Töchter, zwei Söhne und eine kleine, aber ausreichende Wohnung. Eine perfekte bürgerliche Fassade, die gar keine zu sein scheint. „In dieser Familie gibt es keine Geheimnisse“, schwört der Vater. Doch was zunächst nach anti-autoritärer Erziehung klingt, entpuppt sich schnell als das Gegenteil: In dieser Familie bleibt den Mitgliedern zwischen all der verordneten Durchsichtigkeit kaum die Luft zum Atmen, denn aus dem Archipel Familie gibt es kein Entkommen.

Der Roman

Sara Mesa: „Die Familie“. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2025, 240 Seiten, 24 Euro

Erzwungene Gemeinschaft

Hat sich die preisgekrönte spanische Autorin in früheren Erzählungen bereits den Beklemmungen des Dörflichen und Ländlichen gewidmet, seziert Mesa nun eine andere erzwungene Gemeinschaft: die kleinbürgerliche, dysfunktionale Familie. Wenn Damián, der Vater, von seiner Arbeit in der Kanzlei nach Hause kommt, wird er zum absolutistischen Gebieter, auf den sämtliche Machtlinien zulaufen. Was ihm in seiner Arbeit in der Kanzlei an Erfolg und Anerkennung verwehrt bleibt, erwartet er zu Hause – widerspruchslos.

Zum Weinen schließt er sich in sein Arbeitszimmer ein und verbietet seinen Kindern eigene Hausschlüssel. „Keiner hatte eine Vorstellung vom Leben jenseits dieser Mauern“ wird Rosa, die leibliche Tochter, als Erwachsene feststellen.

Damián ist bereits ein kleines Vorhängeschloss am Tagebuch der Adoptivtochter Anlass genug, um an ihr Gewissen zu appellieren und sie als Gegenbeweis für den vermeintlichen Verrat zum lauten Vorlesen zu nötigen: „Martina, Martina, wann wirst du uns endlich vertrauen?“ Es ist die Diktatur einer alles durchdringenden Moral, die bei der kleinsten Verletzung in unvorhersehbare Bestrafung mündet.

Das patriarchale Kontrollregime wird angetrieben von Scham und Schuld, denn die Herrschaft des Vaters ist an vielerlei Stellen verdeckt. Sie kommt ohne körperliche Gewalt aus, ohne je die Stimme zu erheben und führt dennoch zu unbedingtem Gehorsam – nicht nur der Kinder, sondern auch der Mutter. Mesa beschreibt die Mechaniken der bürgerlichen Familie mit großer Genauigkeit, doch viel mehr interessiert sie sich für das Innenleben der einzelnen Familienmitglieder.

Schonungslos zeichnet sie die Effekte nach, die eine solche Erziehung auf die Persönlichkeit eines erwachsenen Menschen haben. „Es gab etwas in ihrer Vergangenheit, problematische Sachen von gläserner Beschaffenheit“, bemerkt Martina viel später. Als Erwachsene sind Rosa und ihre Schwester leicht manipulierbar, haben vor allem männlichen Autoritäten kaum etwas entgegenzusetzen und sind ständig bemüht, die Bedürfnisse ihres Gegenübers zu lesen und sich anzupassen.

Überlebenstaktiken

Anders verhält es sich mit den Brüdern Damián Jr. und Aquilino. Zumindest einer hat früh gelernt, dass es bei einer derart schiefen Autorität wie der des Vaters besser ist, ihr keine allzu große Bedeutung beizumessen und sich stattdessen wieselhaft daran vorbeizuhangeln. Diese Taktik erweist sich als erfolgreich und wird vom Vater (und später auch von der Gesellschaft) auf eine Weise honoriert, die Rosa und Martina niemals offensteht.

Engels begriff die bürgerliche, monogame Familie als Instrument zur Sicherung männlicher Alleinherrschaft und Mesa beschreibt genau, wie trotz des gemeinsamen Aufwachsens unterschiedliche Menschen aus den vier Geschwistern werden und wie patriarchale Strukturen innerhalb und außerhalb der Familie dafür verantwortlich sind, dass es die Töchter um einiges schwerer haben, zu resilienten Persönlichkeiten zu werden als ihre Brüder.

Mesa verzichtet auf eine klassische Romandramaturgie, springt von Szenen in der Kindheit zu Ereignissen, die Jahrzehnte später stattfinden. Die Kapitel lesen sich eher wie eigenständige Kurzgeschichten und nehmen zahlreiche Perspektiven in und um die Familie herum ein. „Die Familie“ ist weniger Roman als Röntgenbild einer Familie und Mesa geht mit der Akribie einer Psychologin vor. Geheimnisse darf es nicht geben in dieser Familie – auch nicht im literarischen Modus.

Alles scheint aufgedeckt und anfangs kann einem das etwas schematisch vorkommen: Showing und Telling sind fein säuberlich auf Vergangenheit und Zukunft aufgeteilt, wechseln sich zu Beginn fast ab, jede erzählte Erinnerung scheint wie eine Handreiche, sich einen Reim auf das spätere Verhalten der Figuren machen zu können. Doch in genau diesem Modus liegt auch der Reiz, denn mit Fortschreiten der Erzählung fügen sich die Innenleben mosaikhaft zusammen. Als hätte man Einblick in jahrelange Therapieaufzeichnungen, fügt sich alles zu einem Bild, eine Nähe entsteht und man möchte den Figuren am liebsten ihren eigenen Roman zu lesen geben, um ihnen dabei zu helfen, sich und ihre Muster zu verstehen.

„Die Familie“ endet offen, eine Lösung für die Schwierigkeiten im Leben der Geschwister tut sich nicht auf. Gemäß Friedrich Engels täte wohl die Abschaffung von Privateigentum und die Überwindung der Institution Familie als Keimzelle der bürgerlichen Ordnung not. Das fordert Mesa zwar nicht, legt mit „Die Familie“ jedoch einen Roman mit hohem Identifikations­potenzial vor, der mit unerbittlicher Genauigkeit freilegt, welche tiefgreifenden Schäden man zeitlebens von dieser erzwungenen Gemeinschaft davontragen kann.

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