■ Roman Herzog und Richard v. Weizsäcker zu Deutschland: Ein Dialog, der nicht stattfand
Der scheidende Bundespräsident hat sich an den kommenden gewandt, aber ohne Anrede „Lieber Roman“ und ohne Talk-Show-Vertraulichkeit. Da war die Würde des Amtes davor. Zwei rechte Kampfblätter haben uns diesen Meinungsaustausch, der keiner war, beschert: das Focus-Magazin, dem der Kandidat Herzog ein Interview gewährte, und die Bild-Zeitung, die von Weizsäcker Gelegenheit gab, ebenfalls in Interviewform, zu antworten. Das Ergebnis ist zwar instruktiv, stimmt aber nicht hoffnungsfroh.
Beide Politiker navigieren in den untiefen Gewässern deutscher Identität. Beide konstatieren den Bedeutungsverlust des Nationalstaats, der, zwischen regionale Zusammenhänge und das größere Europa eingekeilt, nur wenig für sich mobilisieren kann. Wie soll dieses Abstraktum Bundesrepublik Deutschland seine Einwohner dazu bewegen, den Prozeß der Vereinigung samt den damit verbundenen Opfern einigermaßen friedlich, einigermaßen zivilisiert über die Bühne zu bringen? Es ist dieser Punkt, wo von Weizsäckers und Herzogs Ansichten auseinanderdriften.
„Das Gesicht des Staates wird von seinen Mitbürgern geprägt. Je mehr sie untereinander hilfsbereit und zivilcouragiert sind, desto besser ist unser Staat.“ Wir kennen von Weizsäckers Neigungen in Richtung der civil society, aber in dieser Passage seines Interviews ist ein erfreulicher Radikalisierungsprozeß am Werk. Während er bisher das Engagement der Bürger innerhalb etablierter Institutionen in den Vordergrund stellte, setzt von Weizsäcker jetzt auf selbstbewußtes, sei's individuelles, sei's spontan-kollektives Handeln. Von diesem Vertrauen in die Fähigkeit der Bürger zur Selbstorganisation ist bei Herzog nichts zu spüren. Während von Weizsäcker die Identifikation mit dem Staat aus der Selbst-Identifikation solidarischer Bürger hervorgehen läßt, sind es für Herzog „die Verfassung“, „das soziale System“, „die Westintegration“, die Bindungskitt liefern sollen.
Und außerdem gibt es bei Herzog noch „die Schicksalsgemeinschaft“, auf die wir „im Moment wieder angewiesen sind“. Also doch das Identitätsgefängnis. Deutsche oder Deutscher kann nach Herzog nur derjenige Ausländer sein, „der sich kaum noch von den Deutschen unterscheidet“. Wer die Differenz zwischen sich und der deutschen Schicksalsgemeinschaft nicht auslöschen will, soll in das Land zurückkehren, „das er offensichtlich als seine Heimat betrachtet“. Zwei Heimaten gibt es nicht, also doppelte Staatsangehörigkeit nur als Ausnahme.
Was immer „Identität“ im nationalstaatlichen Rahmen bedeuten mag, sie muß so weit gefaßt sein, daß jeder Bürger zwischen mindestens zwei Identitäten hin und her hüpfen kann. Es muß genügen, daß der zukünftige Staatsbürger sich mit den demokratischen Grundsätzen unseres Gemeinwesens identifiziert. Leider ist Richard von Weizsäcker auch jetzt nicht bereit, in seiner stummen Auseinandersetzung mit Herzog diesen Maximen zu folgen. In seinem Bild-Interview will er jungen, hier geborenen Ausländern die doppelte Staatsangehörigkeit gewähren, damit das kulturelle Band zwischen Eltern und Kindern nicht zerreißt. Alle Achtung vor pragmatischen, dabei noch menschenfreundlichen Begründungen – damit ist den Ausschlußmechanismen von Herzogs „Schicksalgemeinschaft“ nicht beizukommen. Christian Semler
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