piwik no script img

Roman „Drei Schwestern“Gegen blaue Flecken hilft das trotzdem nicht

Kaiserslautern ist die neue AfD-Hochburg Westdeutschlands. Wie konnte das passieren? Christian Barons neuer Roman lässt aufhorchen.

Der Autor Christian Baron ist nach sozialem Aufstieg in seinem Schreiben klassenbewusst geblieben Foto: Hans Scherhaufer

Zahlreiche blaue Flecken hat die Deutschlandkarte von der letzten Bundestagswahl davongetragen. Zwei besonders schmerzhafte befinden sich im Westteil des Landes. In Gelsenkirchen und Kaiserslautern gewann zum ersten Mal die AfD die meisten Zweitstimmen in einem westdeutschen Wahlkreis. Zwei Arbeiterstädte und vormals linke Hochburgen.

Wimmernd kassierte der so stolze Westen die Schläge und verstand nicht, wie er zu diesen Malen gekommen war. Haben die Arbeiter etwa vergessen, dass das Herz links schlägt? Auf einmal waren es nicht nur Ossis aus Dunkeldeutschland, sondern Menschen aus dem eigenen Habitat, die ein besorgniserregendes Wahlverhalten aufwiesen. Der Bedarf nach Erklärung ist nach wie vor groß.

Da trifft es sich, dass Christian Baron einen neuen Roman veröffentlicht hat. 1985 in Kaiserslautern geboren, ist sein Werk den Menschen verschrieben, von denen einige vermutlich ihr Kreuz bei der rechtsextremen AfD gesetzt haben: Er berichtet aus den Niederungen des Arbeitermilieus in Kaiserslautern – es handelt sich dabei um seine eigene Familiengeschichte, die er in eine Trilogie gegossen hat.

Mit „Drei Schwestern“ ist nun der finale Band erschienen, der die Generation von Barons Mutter in den Blick nimmt. Was lernen wir dort über AfD-Wähler, die kein Klassenbewusstsein mehr haben? Was sind das für Leute?

Der Roman

Christian Baron: „Drei Schwestern“. Ullstein Verlag, München 2025, 352 Seiten, 24 Euro

Der einzige Weg hinaus

Kaiserslautern, achtziger Jahre: Mira und Juli leben auf zwei Zimmern mit einem alkoholkranken Vater. Der einzige Weg aus ihrem Arbeiterviertel hinausführt in den Himmel, wo ihre Mutter sich bereits hingesoffen hat. Einzig die ältere Schwester Ella ist ihrer Herkunft entkommen – durch Heirat mit Spießer Norbert. Mira hat weniger Glück – mit 16 wird sie das erste Mal schwanger sitzengelassen und erleidet eine Totgeburt.

Nachdem Baron in den ersten beiden Bänden der Reihe zunächst seine eigene Biografie und dann die seines Großvaters abgebildet hatte, liegt sein Fokus nun explizit auf der weiblichen Erfahrungsgeschichte. In Miras Schicksal treffen sich soziale und geschlechtsspezifische Fesseln: Als Arbeiterkind ist sie in der Schule gebrandmarkt, als Frau ist sie patriarchaler Gewalt ausgesetzt. Auch wenn ihr neuer Liebhaber Ottes sie nicht schlägt, muss sie trotzdem fürchten, wieder schwanger sitzen gelassen zu werden.

Doch Mira flüchtet aus der pfälzischen Enge nach Westberlin, Sehnsuchtsort alternativer Lebensentwürfe. Sie zieht in eine Kreuzberger WG – und begegnet dort ebenjenen Menschen, die sich nach der vergangenen Bundestagswahl die Augen rieben: linksgrüne Akademiker. Baron porträtiert hier ein Milieu im Entstehen: eine Blaupause jenes liberalen Bürgertums, das heute sanierte Altbauwohnungen zwischen Frankfurter Nordend und dem Prenzlauer Berg bevölkert.

Verkörpert wird es im Roman von pseudolinken Revoluzzern, deren politische Ansichten zum Lifestyle-Accessoire verkommen sind. Als Mira sich eine Arbeit als Reinigungskraft sucht, wird sie dafür belächelt: Warum morgens um sieben aufstehen, wenn man sich auch ein laues Leben auf Kosten des Staates machen kann?

Die Herkunft scheint durch

Wenn man dieser Darstellung glauben mag, scheinen sich Arbeiter und linke Urbane von Anfang an nicht verstanden zu haben. Allzu oft verrät sich Mira durch die Unkenntnis der Gepflogenheit ihres neuen Milieus als Arbeiterkind und wird dafür mit Herablassung gestraft.

Da kann man sich dann auch die Beantwortung der hier eingangs gestellten Frage sparen. Sie entlarvt sich selbst und den Autor dieses Textes als Mitglied ebenjenen liberalen Milieus, das nach Barons Lesart von Anfang an keinen Kontakt zum sogenannten einfachen Volk hatte. Hinter dem vorgeblichen Erkenntnisinteresse versteckt sich eine paternalistische Haltung, die unsensibel gegenüber den feinen Unterschieden ist.

Letztlich sind es nicht die prekär lebenden Menschen, die kein Klassenbewusstsein mehr haben – sie wissen schließlich sehr genau, dass am „Ende des Geldes zu viel Monat übrig ist“. Sondern jene, die sich nicht der Privilegien ihrer Klasse bewusst sind.

Baron, der nach sozialem Aufstieg nun auch diesem liberalen Milieu angehört, ist in seinem Schreiben klassenbewusst geblieben. Er zeigt sich empathisch für sein Herkunftsmilieu, ist sich aber zugleich bewusst, dass er nicht für diese Menschen schreibt, sondern eben für liberale Akademiker. Nur Eingeweihte können das schon im Titel beginnende Spiel der literarischen Referenzialität mitspielen: Baron kennt seinen Tschechow und leiht sich elegant Frau Stöhr und ihre 28 Fischsaucen aus dem Zauberberg, um die ignorante Arroganz einer Spießbürgerin bloßzustellen.

Flucht zurück nach Kaiserslautern

Die Unkenntnis solcher kulturellen Codes drängt jedoch seine Protagonistin zur abermaligen Flucht zurück in ihr angestammtes Umfeld. Schamgeplagt verlässt sie unter wehenden Fahnen einen Lyrikabend, auf dem sie für ihre engagiert-naiven Gedichte verlacht wird, und macht sich auf direktem Weg zurück in die Pfalz. In dieser Szene zeigt sich das erzählerische Talent Barons: Aus der abstrakten sozialen Realität modelliert er plastische Momente von eindrücklicher Brutalität.

Ab und an wird man herausgerissen aus dieser stimmigen Komposition, wenn eine von Barons Figuren den Mund aufmacht und man ihr ein bisschen zu sehr den Arbeiter anhört („Haste was?“). Indes widersteht „Drei Schwestern“ erfolgreich dem Trauma-Porno, bleibt nüchtern im Ton.

Und was sagt uns das jetzt über die Wählerschaft der AfD? Am Ende sehr wenig. Denn in diesem Roman geht es gar nicht um Faschisten. Erst recht ist er keine Apologie für Nazi-Wähler. Vielmehr hilft er, das vermeintliche Verstehenwollen des Wahlergebnisses als Selbstvergewisserung der moralischen Überlegenheit des liberalen Bürgertums zu sehen.

Dieser Erklärreflex nervt, weil er das grundsätzliche Problem des Unwissens über die Lebensrealität vieler Menschen außerhalb des eigenen sozialen Umfelds nicht löst. Da ist die Lektüre von „Drei Schwestern“ wohltuend. Gegen die blauen Flecken hilft das trotzdem leider nicht.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare