Roman „Corregidora“: Diese Stimme singt den Blues
„Corregidora“ von Gayl Jones erschien im Original bereits 1975. Nun liegt der Roman über die schwarze Bluessängerin auf Deutsch vor.
Eines der wichtigsten Mittel, um Romanfiguren glaubwürdig erscheinen zu lassen, ist in der modernen Literatur der innere Monolog. Die Schilderung des inneren Erlebens einer Figur lässt sie plastisch werden und erlaubt einer Autorin, ihre Menschenkenntnis virtuos darzustellen.
Viel schwieriger verhält es sich mit der wörtlichen Rede. Es ist nicht nur so, dass es schnell gestelzt wirkt, wenn Figuren allzu eloquent ihr Inneres nach außen kehren. Enorm schwierig ist es auch, die Stimme eines Menschen, seine Eigenheiten in Formulierungen und Timbre wiederzugeben. Die Nachahmung von Dialekt misslingt oft oder wirkt herabwürdigend. Probleme allenthalben.
Nach der Lektüre des Romans „Corregidora“ von Gayl Jones, der bereits 1975 in den USA erschien und nun erstmals in der deutschen Übersetzung von Pieke Biermann vorliegt, besteht Anlass, diese Fragen neu aufzurollen.
Sie sind keineswegs abstrakt, denn in der Geschichte der Bluessängerin Ursa Corregidora, die sich in den 1940er Jahren in Kentucky mit Gigs in örtlichen Lokalen durchschlägt, verbindet sich auf sensationelle Weise ein politisches Anliegen, das seit der Erstveröffentlichung eher an Brisanz gewonnen hat.
Schwarze Kultur
Schwarze Kultur über das Medium der Stimme zu repräsentieren, mag für die Musik naheliegend sein, für die Literatur ist es das viel weniger. „Corregidora“ geht nun dennoch direkt ins Ohr. In fünf Teilen erzählt Ursa Corregidora von ihrem Leben. Mit Anfang 20 ist sie die Frau des gewalttätigen Mutt, der sie aus Eifersucht nach einem Auftritt in der Bar Happy’s so attackiert, dass sie die Treppe zum Hintereingang herunterfällt. In der Folge verliert sie im Krankenhaus ihre Gebärmutter und ihre Schwangerschaft.
Gayl Jones: „Corregidora“. Aus dem Englischen von Pieke Biermann. Kanon Verlag, Berlin 2022, 220 Seiten, 23 Euro
Unterschlupf findet sie nach ihrer Entlassung erst beim Inhaber von Happy’s, später bei einer Nachbarin, von deren Pflegetochter sie sexuell belästigt wird. Ursa versucht, ihre Genesung zu beschleunigen, um wieder singen zu können, denn „ich singe, weil ich einfach muss“, lässt sie direkt in den ersten Sätzen des Romans wissen.
Um wieder auf die Beine zu kommen, gibt sie dem Fürsorgeversprechen von Tadpole, Wirt von Happy’s, nach, heiratet ihn und versucht in der Ehe vor allem, seinen sexuellen Bedürfnissen gerecht zu werden, trotz aller Schmerzen, die sie nach ihrer Operation noch immer verspürt. Es geht nicht gut.
Sie findet Tadpole schließlich mit einer noch jüngeren Sängerin im Bett und geht ihren eigenen Weg, der sie letztlich fast zwanzig Jahre später zu Mutt zurückführt. Daran wird nichts beschönigt, die Gewalt von damals setzt sich fort, die Anziehungskraft zwischen den beiden ist geblieben, ihre Intimität, die nur wenig Worte braucht, ebenfalls.
Das Leben der Vorfahrinnen
Ursas Erlebnisse werden von Jones mit denen ihrer Vorfahrinnen parallelisiert. Der gesamte Roman ist mit den Erzählungen über ihr Leben durchsetzt, an die sie sich in Gesprächen oder allein mit sich erinnert.
Dabei handelt es sich eben nicht um innere Monologe, in denen sie mit sich selbst über ihre Geschichte ins Reine zu Kommen versucht, sondern eher um Anrufungen ihrer Vorfahrinnen. Was macht unsere Geschichte aus, deren Verlauf wir so wenig selbst bestimmen konnten?, lautet die Frage, die durch den Roman mäandert.
Die Suche beginnt bei dem Nachnamen, den Ursa und ihre Vorfahrinnen bis zur „Ur-Ooma“ tragen: Er stammt von demjenigen portugiesischen Sklavenhalter, dessen Herrschaft ein Trauma in die Generationenfolge eingebrannt hat: „Der alte Corregidora, portugiesischer Sklavenzüchter und Hurenschieber. (Nennt man die so?) Hat seine eigenen Huren gefickt und seine Zucht aufgemacht. Sie haben das Ficken erledigt und ihm das Geld abliefern müssen. Meine Großmamma war eine Tochter von ihm, aber die hat er auch gefickt. Sie hat gesagt, als da unten Schluss mit der Sklaverei war, haben die alle Papiere über die Sklaverei verbrannt, damits so aussieht, als hätte es die nie geben.“
Papiere über die Sklaverei verbrannt
Mit „da unten“ ist Brasilien gemeint, und diese Dokumentenvernichtung ist ein historisches Faktum, das Jones, die sich 1973 in Creative Writing an der Bown University promovierte, hier verarbeitet. Ihr Roman ist nicht nur selbst Widerstand gegen die Vernichtung dieser Geschichte, sondern entwickelt eine eigene Ästhetik für die Mündlichkeitstradition der afroamerikanischen Kultur, wie man sie auch bei Autorinnen wie Toni Morrisson oder Alice Walker findet.
Das ist nicht allein Ergebnis eines subjektiven Ausdruckswillens, sondern eine spezifisch Schwarze Erweiterung des methodischen Repertoires von Literatur überhaupt. Eine Eins-zu-eins-Transkription gesprochener Sprache eignet sich für soziologische Untersuchungen, nicht aber für die Literatur.
Jones hat in ihrem Roman das Kunststück vollbracht, eine naturalistische Sprache ihrer Figuren zu entwerfen, die deshalb überzeugend ist, weil sie vollkommen künstlich ist – und Pieke Biermann hat das nicht unbedingt kleinere Kunststück vollbracht, dieses Idiom im Deutschen nachzubilden.
In ihrem sehr lesenswerten Nachwort zum Roman erläutert Biermann, wie sie dabei vorging, „die repetitions, die call-and-response-Elemente, die blues breaks“, die Jones zur Rhythmisierung ihres Textes verwendet, ins Deutsche zu bringen.
Schwarze Umgangssprache
Man müsse dazu das Deutsche quasi renovieren, schreibt Biermann, was sie dadurch gelöst habe, dass sie das black vernacular, also die Schwarze Umgangssprache, in ein Deutsch gebracht habe, das die Lesegewohnheiten dadurch herausfordert, dass beispielsweise die Namen von Ursas Vorfahrinnen so geschrieben werden, wie man sie spricht – also eben „Ur-Ooma“ oder „Mamma“.
Das Ergebnis ist dabei ein Text, der in seinen klar getroffenen und gut begründeten Entscheidungen ästhetisch zwar schlüssig ist, aber es bleibt: ein Text deutscher Sprache. Ein Dilemma, das nicht aufzulösen ist. Das, was Jones im Englischen gelingt, nämlich einen Text den Blues singen zu lassen, muss im Deutschen verloren gehen.
Beim Lesen stellt sich nicht selten der Wunsch ein, das Ganze als Film mit Untertiteln schauen zu können, das Deutsch verbannt in die Schrift, das Englisch parallel dazu präsent in der Tonspur.
Nicht auszudenken allerdings, was passiert wäre, wenn eine weniger versierte Übersetzung des Textes vorläge, eine, die sich vor den vielen Brutalitäten gedrückt hätte und die Geschichte des Schwarzen Befreiungskampfes über vier Generationen mit falscher Dezenz angegangen wäre.
Eine der vielen Stärken von Jones’ Roman sind die Sexszenen, in denen das, was zwischen Ursa und ihren Partnern passiert, nicht dadurch gelingt, dass mitgeteilt wird, wer wen wo und wie anfasst, sondern maßgeblich durch den Dialog, der dabei geführt wird. „Ist das gut?“ – „Ja“ – „Ist das gut, Baby?“ – „Ja, ja.“ – „Es soll sich geil anfühlen, Baby. Ich will nur, dass es geil für dich ist.“ Das ist nicht besonders ausdifferenziert. Sex ist das aber wohl auch oft nicht.
Identität zusammenpuzzeln
Dabei ist mit dieser Sparsamkeit nur ein Register unter den vielen genannt, die Jones in ihrem Roman zieht. Neben dem Versagen der Sprache in der Intimität gibt es deren Überborden in der Erinnerung, beispielsweise, wenn Ursa es im vierten Teil des Romans endlich gelingt, ihre Mutter zum Sprechen zu bringen und ihr die Teile der Familiengeschichte zu entlocken, die ihr bislang noch fehlen, um ihre Identität zumindest halbwegs vollständig zusammenzupuzzeln.
Die Geschichte darüber, wie sich schon die Großmutter versuchte, mittels ihrer Sexualität und deren Kraft zumindest zentimeterweise aus der Kralle des Sklavenhalters Corregidora zu befreien, ist flankiert von den Geschichten all jener Sklaven, denen das nicht gelang. Es ist flankiert von dem Versprechen, das sich alle Frauen in der Familie gaben, ihre Geschichte weiterzuerzählen, „Generationen zu machen“, die im gesprochenen Wort erhalten, was ihnen angetan worden ist.
Ursa Corregidora wird dieses Versprechen nach ihrer Hysterektomie nicht erfüllen können. Die enttäuschte Hoffnung auf ihre Reproduktionsfähigkeit ist dabei jedoch vielleicht der stärkste Widerstand gegen die entmenschlichenden Erwartung an das Gebären Schwarzer Frauen, das sich auch in den Lebensgeschichten ihrer Freundinnen spiegelt.
Die Frage, wie sie nun die Erfahrungen weitergeben wird, die ihre Familie gemacht hat, beantwortet sie, indem sie singt. Ihre Geschichte liegt in ihrer Stimme. Jones hat sie in ihrem Roman für uns hörbar gemacht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Verfassungsrechtler für AfD-Verbot
„Den Staat vor Unterminierung schützen“