Roma in Bulgarien: Ein echtes Hundeleben
Fast 800.000 Roma leben in Bulgarien. Die meisten sind arm und ohne Schulbildung. Viele Bulgaren sehen sie nur als Schmarotzer. Und die Regierung will sie nicht integrieren.
PLOWDIW taz | Der Gang durch das Roma-Viertel Scheker Machala, zehn Autominuten vom Zentrum der zweitgrößten bulgarischen Stadt Plowdiw entfernt, wird zum Spießrutenlauf. An der Straße steht ein junger Mann in ausgebeulten Trainingshosen und hält zwei Schachteln Zigaretten hoch. Zögerlich geht er auf die Ankömmlinge zu, mustert sie kurz und sucht schnell das Weite. Auch drei junge Frauen, die neben einer Tüte mit Fleischstücken auf der Straße kauern, haben keinen Gesprächsbedarf. "Was suchen Sie hier", zischt eine.
Dicht an dicht drängen sich in dem Viertel, wo rund 10.000 Roma leben, windschiefe Hütten, Bretterverschläge und einstöckige Häuser aus Stein. Die engen Gassen, die eher Trampelpfaden gleichen, sind heute nur über Holzbretter begehbar, da heftige Regenfälle den Sandboden aufgeweicht haben. In vielen Unterkünften, die teilweise offen sind, stehen Pferde, mit dem Halfter an Holzbalken festgebunden. Auch Hühner laufen zwischen den Hütten herum. Stromversorgung gibt es hier ebenso wenig wie eine Kanalisation.
Vor einer Hütte verarbeitet eine alte Frau mit Kopftuch und langem Rock Maiskolben. Auf einem Gaskocher brutzelt ein undefinierbarer dunkler Brei in einer Emailleschüssel. Auch sie schüttelt, als sie angesprochen wird, unwillig den Kopf. Ein Mann von gegenüber, der die Szene verfolgt hat, blickt sich kurz um und bittet die unangemeldeten Gäste in den kleinen Hof vor seinem Haus. Sari Arifow ist mittelgroß, schlank, grauhaarig. Seit 1958 lebt der 64-Jährige in Scheker Machala. Er spricht betont leise, obwohl ihn hinter der geschlossenen Hoftür ohnehin niemand hören kann. Das Leben sei sehr schwer. Er finde nur hin und wieder für eine paar Tage Arbeit, Hilfe vom Staat gebe es auch keine. "Wir haben 160 Lewa (80 Euro) zum Leben, das reicht nicht einmal fürs Essen", erzählt er.
Minister der Mitgliedstaaten des Europarats, Vertreter der Europäischen Kommission sowie der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) treffen sich am heutigen Mittwoch in Straßburg, um über die Lage der rund 11 Millionen Roma in Europa zu diskutieren. Generalsekretär Thorbjørn Jagland wird neue Initiativen in den Bereichen Bildung, Unterkunft, Gerechtigkeit, Gesundheit, Gleichstellung von Frauen und Männern und Teilnahme am staatsbürgerlichen Leben vorstellen. Erst in der vorvergangenen Woche hatte der Europarat gefordert, kollektive Abschiebungen von Roma in das Kosovo zu stoppen. Scharf verurteilt wurden in einer entsprechenden Entschließung der Parlamentarischen Versammlung auch "Hassreden" über Roma. (bo)
Dann senkt er noch einmal die Stimme. Die Behörden interessiere es nicht, was hier im Viertel passiere. Verwahrloste kleine Kinder spielten im Abfall. "Sehen Sie doch nur, in welchem Elend wir hier existieren", sagt er und fügt noch hinzu: "Was der französische Präsident Nicolas Sarkozy getan hat, war richtig. Die Roma, die dort hingegangen sind, wollten doch nur die Menschen bestehlen. Das ist eine Sünde vor Gott. Ich aber, ich bin ein ehrlicher Mensch."
Die Abschiebung von tausenden rumänischen und bulgarischen Roma aus Frankreich in ihre Heimatländer hat auch in Bulgarien die Diskussion über den Umgang und die Probleme mit dieser - nach den Türken zweitgrößten - Minderheit wieder angefacht. Schätzungen zufolge leben zwischen 700.000 und 800.000 Roma in Bulgarien - ein Zehntel der Gesamtbevölkerung. Genaue Zahlen gibt es nicht, weil sich viele Roma bei entsprechenden Erhebungen als Angehörige einer anderen Ethnie ausgeben. Zwei Drittel der Roma, die jeweils zur Hälfte Christen und Muslime sind, wohnen in abgesonderten Vierteln - ein Erbe der kommunistischen Zeit, in der die Machthaber versuchten, die Roma sesshaft zu machen.
Die meisten sprechen einen Dialekt der Roma-Sprache Romanes, der dem Türkischen ähnelt, und beherrschen das Bulgarische nur unzureichend. Die Folge: eine fehlende oder nur mangelhafte Schul- und Ausbildung, die unweigerlich in die Arbeitslosigkeit führt. Diese beträgt 70 Prozent, an manchen Orten auch deutlich mehr. Auch hier gibt es keine gesicherten Daten. Denn die Roma, die eine Arbeit haben, verdingen sich meist als Tagelöhner oder halten sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser: in der Landwirtschaft, auf dem Bau oder als Sammler von Altpapier, Metall und Glas, sie sind nirgendwo registriert.
Die große Mehrheit ist weder kranken- noch rentenversichert. Besonders für eine Altersvorsorge fehlen die Mittel und die Motivation: Mit einer Lebenserwartung von 60 Jahren, die 13 Jahre unter dem Landesdurchschnitt liegt, erreichen die meisten den Ruhestand ohnehin nicht.
"In welche dunklen Kanäle ist das Geld für die Roma geflossen?", fragte unlängst die bulgarische Wochenzeitung Kapital. In den vergangenen zehn Jahren hätten für die Integration der Roma gerade einmal 3,30 Lewa (1,60 Euro) pro Monat und pro Person zur Verfügung gestanden, rechnete das Blatt vor. Und das, obwohl Bulgarien an zwei speziellen Rahmenprogrammen teilnähme und Summen in Millionenhöhe, auch aus Brüssel, in entsprechende Projekte investiert worden seien.
Der rechtsliberalen Regierung in Bulgarien fehlten der politische Wille und eine schlüssige Strategie, schrieb Kapital und verwies auf ein Ereignis, durch das die Kleinstadt Jambol vor wenigen Wochen traurige Berühmtheit erlangte: Dort ließ die Polizei einen von dutzenden Roma-Familien bewohnten, völlig verwahrlosten Plattenbau räumen. "Das ungelöste Problem mit den Roma ist die größte Bombe, die derzeit in Bulgarien tickt", heißt es abschließend in dem Beitrag. "Und sie wird auch nicht dadurch unschädlich gemacht, dass man zur Freizügigkeit für Roma aufruft."
Um eine Entschärfung dieser Bombe bemüht sich Asen Karagyozov bereits seit 13 Jahren. Er leitet den Jugendclub einer Roma-Vereinigung in Stolipinowo - mit 50.000 Einwohnern der größte Roma-Bezirk in Plowdiw. Anders als in Scheker Machala dominieren hier achtgeschossige graue Wohnblocks, die länger keinen Anstrich mehr gesehen haben. Die Wasserversorgung reicht jeweils nur bis in die dritte Etage. Die löcherigen Straßen säumen Händler, die Obst, Gemüse, Spielzeug und Billigtextilien anbieten. Pferdewagen, mit Säcken, Metall und Glas beladen, sind hier immer noch ein gängiges Fortbewegungsmittel.
Asen Karagyozovs Arbeitsplatz befindet sich in einem weiß getünchten Gebäude, der "Stiftung für die regionale Entwicklung der Roma - Plowdiw". Der 33-Jährige, der Jeans, ein pinkfarbenes, makellos gebügeltes Hemd und eine Goldkette trägt, führt den Unterrichtsraum vor, der an dem Tag verwaist ist. Junge Roma werden hier von Pädagogen unterstützt und gefördert - vor allem diejenigen, die in Klassen mit mehrheitlich bulgarischen Schülern lernen.
Sechs Grundschulen im Zentrum von Plowdiw beteiligen sich an diesem "Desegrationsprojekt", das seit 2004 läuft und derzeit 260 Roma erreicht. "Die Bulgaren haben von Anfang an positiv auf diese Initiative reagiert. Denn sie haben verstanden, dass Roma, die keine Ausbildung haben, ein Problem für die gesamte Gesellschaft sind." Zurückhaltend bis ablehnend seien anfangs die Roma-Familien gewesen, doch das habe sich geändert. "Mittlerweile können wir gar nicht mehr alle Kinder in unserem Projekt unterbringen", sagt Asen.
Auch Asens Vater, Anton, musste lange dafür kämpfen, dass sein Sohn eine bulgarische Schule besuchen durfte. Die Mühe hat sich gelohnt. Asen bereitet gerade seinen Bachelor in Wirtschaftsrecht vor und ist damit einer von fünf Roma in Stolipinowo, die eine Hochschulausbildung haben. Doch solche wie er werden in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.
Für die Mehrheit der Bulgaren sind die Roma einfach nur Kriminelle und Schmarotzer, die auf Kosten der Mehrheit leben und sich überhaupt nicht integrieren wollen. "Es wird immer nur ein negatives Bild von den Roma gezeichnet. Aber warum zeigt niemand, dass sie auch etwas leisten können? Dass auch Roma-Organisationen etwas Gutes bewirken?", schimpft Asen. Stattdessen regten sich die Leute darüber auf, dass diese Organisationen zu viel Geld bekämen. "Und wenn dann Mittel verschwinden, sind wir schuld daran."
Die sich hartnäckig haltenden Vorurteile gegenüber den Roma bereiten auch dem Vorsitzenden des bulgarischen Helsinki-Komitees, Krassimir Kynev, Kopfzerbrechen. Besonders nach der französischen Abschiebeaktion habe sich das politisch-soziale Klima weiter verschlechtert. Das beweise auch die steigende Zahl von xenophoben Beiträgen in den Medien. "Bislang war Frankreich für uns so eine Art Vorbild. Jetzt hat Sarkozy ein Beispiel für Rassismus gegeben. Und die Botschaft, die in Bulgarien ankommt, lautet: ,Eine repressive Politik gegen Roma ist möglich. Das heißt, wir hier können genauso vorgehen.' Mittelfristig sinken dadurch die Chancen für eine erfolgreiche Integration."
Im Plowdiwer Stadtteil Hadsen Asan Machala, einem weiteren Roma-Viertel, sind die Straßen fast menschenleer. Vor einem zweistöckigen Haus sitzt ein alter Mann auf einem Plastikstuhl und ist in die Lektüre einer Zeitung vertieft. Stoitschko Mustanow betreibt auf drei Quadratmetern einen kleinen Laden, in dem er Waren des täglichen Bedarfs anbietet: Schwämme, Besen, Toilettenpapier, Zucker, Schokoriegel, Sonnenblumenkerne. Doch Kunden kommen nur wenige. "Die Menschen haben keine Arbeit und kein Geld", sagt er.
Mühsam erhebt sich der 57-Jährige und schlurft in den Verkaufsraum, um der Besucherin einen Kaffee zu holen. 160 Lewa Invalidenrente (80 Euro) bekommt er. Das reicht nicht einmal für die Medikamente, die er braucht. "Früher", sagt er, "da war es besser. Jetzt sind wir zwar in Europa, aber kaufen können wir uns nichts." Er hält einen Augenblick inne. "Mir ist egal, was oder wer jemand ist. Zuallererst ist er doch ein Mensch." Dann fällt sein Blick auf einen Hund, der auf dem Bürgersteig in der Sonne liegt. " Ja, ja, so ist unser Leben", sagt er. "Ein richtiges Hundeleben."
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