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Rollenstereotype nutzen

Alternativgeschichte Unter dem Titel „Feministisch wider Willen“ widmete sich das Wiesbadener goEast-Filmfestival den Regisseurinnen des osteuropäischen Kinos

Szene aus „Spiel um den Apfel“ (1976) der tschechoslowakischen Regisseurin Věra Chytilová Foto: goEast

Von Fabian Tietke

Eine Erkenntnis, die sich wiederholt: auf Filmfestivals zu fahren, die sich Nischen widmen, ­Filmen, die im allgemeinen Kinobetrieb wenig präsent sind – und dabei eine Welt zu entdecken. In der Nische des Wiesbadener goEast-Film­festivals findet sich das osteuropäische Kino in seiner ganzen Vielfalt wieder. Das Besondere des Festivals ist die Aufmerksamkeit, die der Geschichte dieses Kinos gewidmet wird. Knapp ein Drittel der Filme des diesjährigen Festivals gehörten zur Hommage an die ungarische Regisseurin Márta Mészáros (die ab dem 13. Mai im Berliner Kino Arsenal zu sehen sein wird) oder zum ­Symposium einer durch Vorträge erweiterten Retro­spektive.

Unter dem Titel „Feministisch wider Willen“ widmete sich das Symposium den Regisseurinnen des osteuropäischen Kinos. 26 Filme aus den Jahren zwischen 1930 und 2016 und ein halbes Dutzend Vorträge und Diskussionen haben Barbara Wurm, Christine Gölz und Borjana Gavović zu einem Überblick über das weibliche Filmschaffen in Osteuropa zusammengestellt. Während sich die Filme zu nicht weniger als einer Alternativgeschichte des osteuropäischen Films fügten, befragten die Vorträge die Filme und ihre Regisseurinnen auf ihr jeweiliges Verhältnis zum Feminismus.

Das zurückhaltende bis ablehnende Verhältnis vieler Filmemacherinnen aus Osteuropa brachte Cornelia Klauß von der Akademie der Künste mit dem Titel ihres Vortrags auf den Punkt: „Feminismus – das war in der DDR keine Kampfvokabel“. Die Pro-forma-Gleichberechtigung in den Ländern Osteuropas und die gegenüber „dem Westen“ progressiveren Positionen etwa in Sachen Abtreibungsrecht prägten den Blick auf die Probleme, auf die filmemachende Frauen auch in Osteuropa stießen. In den Konflikten mit den Zensoren waren sich die Regisseurinnen mit ihren männlichen Kollegen einig.

Einige der Rollenstereotype ließen sich sogar nutzen, um Kritik unterzubringen: so zitierte Cornelia Klauß aus einem Gespräch mit dem DDR-Drehbuchautor Ulrich Plenzdorf, dass kritische Kommentare nicht selten gezielt Schauspielerinnen in den Mund gelegt wurden, weil deren Dialoge seiner Wahrnehmung nach in den Augen der Zensoren weniger Gewicht beigemessen wurde.

Das Gefälle zeigte sich eher im Alltag. So berichtete die sowjetisch-georgische Filmemacherin Lana Gogoberidze die Anekdote, dass ein männlicher Kollege sie für einen ihrer Filme mit den Worten lobte, nun sei ihr endlich ein „männlicher Film“ gelungen. Mit Blick auf die Werkbiografien zeigt sich, dass die Probleme in den Produktionsstrukturen denen von heute ähneln: wie in den Befunden von Pro Quote Regie für die deutsche Gegenwart arbeiteten die meisten Frauen im osteuropäischen Kino eher nicht im Spielfilm, sondern im Dokumentar- und Kurzfilm. Die Schwierigkeiten, kontinuierlich zu arbeiten, sind ebenfalls eher größer als bei den männlichen Kollegen. Erst Ende der 1980er Jahre gab es größere Versuche der Filmemacherinnen Osteuropas, sich selbst zu organisieren.

Die Qualität der Filmauswahl zeigte sich unter anderem darin, dass sich auch an Klassikern des osteuropäischen Films wie „Flügel“ (1966) von der sowjetischen Regielegende Larissa Shepitko oder der Beziehungskomödie „Spiel um den Apfel“ (1976) der tschoslowakischen Regisseurin Věra Chytilová durch die Fragestellung und die Nähe zu weniger bekannten Filmen wie Valeriya Gai Germanikas semidokumentarischem Film „Mädchen“ (2005) neue Facetten entdecken ließen.

In den Konflikten mit den Zensoren waren sich die Regisseurinnen mit ihren männlichen Kollegen einig

Besonders aufschlussreich war das Nebeneinander von Filmen, die Ähnlichkeiten mit dem feministischen Aufbruch im Westeuropa der 1960er Jahre aufwiesen, mit solchen, die die Gleichberechtigung voraussetzten und sich gänzlich anderen Themen widmeten. Die polnische Regisseurin Wanda Jakubowska erzählt in „Begegnungen im Zwielicht“ (Polen, DDR 1960) vom Wiedersehen einer ehemaligen polnischen Zwangsarbeiterin mit dem Leiter der Fabrik, in der sie während des Zweiten Weltkriegs arbeiten musste, nach Kriegsende. Olaf Möller präsentierte einen Überblick über das Werk der sowjetischen Regisseurin Vera Stroyeva.

Die Annäherung an das Filmschaffen erfolgte weitgehend über Nationalkinematografien. Transnationale Aspekte wurden lediglich angedeutet. Diese wären einer der wichtigeren Aspekte, die es im Weiteren zu untersuchen gölte. Wie sich überhaupt zahlreiche anregende Fragen aus dem diesjährigen goEast-Symposium ergeben. So fiel an der Filmauswahl auf, dass Filme aus der politischen Transformationszeit der 1990er Jahre fehlten. Wie sich die Filme jener bewegten Jahre zu denen verhalten, die unter sozialistischen Vorzeichen oder dem konsolidierten Brachialkapitalismus der Gegenwart entstanden, wäre ebenfalls aufschlussreich.

Der Aufenthalt des Autors in Wiesbaden wurde von goEast unterstützt.

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