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Rollensplitter

Fernando Pessoas „Faust“ erlebt in Basel seine deutschsprachige Erstaufführung  ■ Von Gerhard Mack

An vier Tischen sitzen vier Männer und schreiben. Zwei von ihnen schauen sich eine Weile feindselig an und schreiben weiter. Eine Bleistiftmine bricht ab, alle vier beginnen zu spitzen, brechen ihre Minen ab, spitzen sie und schreiben weiter, brechen nacheinander ihre Minen ab, langsam entsteht ein Rhythmus aus Spitzen, Abbrechen, Schreiben, in den alle beiläufig und doch, wie von einer geheimen Macht getrieben, einstimmen. Kaum haben sie die Melodik etabliert, kippt sie um in die frühere Ruhe, und die Akteure fallen aus ihrem Zusammenhalt zurück in die eigene Vereinzelung. Das lange stumme Spiel ist die Ouvertüre; Christoph Marthaler macht aus Pessoas Faust eine musikalische Komposition.

Als Fernando Pessoa 1935 starb, hatte er kaum etwas veröffentlicht. Sein Nachlaß enthielt zahllose Schnipsel; Fragment und Collage waren ohnehin die literarischen Formen des radikalen Subjektivisten. Der Faust-Stoff hat ihn mehr als zwanzig Jahre beschäftigt, die Skizzen und Textstücke reichen von der frühen Anlehnung an Goethes Vorbild (manches erinnert an Auerbachs Keller, Schüler-Szenen, die Studierstube, an die Schwertlein und an Gretchen) bis zum ontologische Monologisieren. Die Fassung, die die Herausgeberin Teresa Sobral Cunha daraus arrangiert hat, liest sich (in der Übersetzung Georg Rudolf Linds) vielleicht deshalb eher wie ein dunkles Raunen, das hinter seinen poetischen Verknappungen kaum anderes als Pessoas berühmtes Buch der Unruhe verbirgt. Bis in die Übernahme ganzer Passagen hinein finden sich da das Leiden an der rationalistischen Entzauberung der Welt, die Kluft zwischen Sein und Bewußtsein und die Klage über den Verlust Gottes und mithin jeden Zentrums.

Das alles hat Christoph Marthaler nur sehr bedingt interessiert. Er ist ein Komödiant und Musiker erster Güte, sein Terrain liegt da, wo zwischen Schmunzeln und Melancholie noch nicht entschieden ist: Der Philosophie entdeckt er das Banale, der „subjektiven Tragödie“ begegnet er mit der Komödie der Rollenspiele, die „existentielle Traurigkeit“ endet er in der Kneipe, dem poetischen Sprachgespinst gibt er Form durch Rhythmus.

Die vier Männer in Hut, Fliege und Anzug gleichen Pessoa, wie man ihn von Bildern her kennt, sie verkörpern Aspekte des Persönlichkeitskaleidoskops Faust, und sie sind ein Komikerquartett: André Jung und Josef Ostendorf füllen ihre Anzüge prall aus, Martin Horn und Ueli Jäggi schlottern sie um den Leib. Ostendorf schaut mit großen naiven Augen durch die dunkle Brille, Jung verkleinert die Pupillen zur mißtrauischen Vertrauensseligkeit des Kleinbürgers. Ueli Jäggi lächelt entrückt, und Martin Horn dreht den Kopf irritiert zur Seite. Wenn einer die Hände wischt, tun es alle, wenn einer spricht, hören sie zu, als käme die Stimme aus einer anderen Welt. Sie sind durch ein geheimes Band miteinander verbunden und lassen sich doch in Ruhe. Jeder scheint zu wissen, was die anderen gerade tun, und ist doch beinahe nur mit sich selbst beschäftigt. Kein Wunder, die vier sind Faust, sind Pessoa; die Bühne ist ein Kopf voller Rollensplitter, die alte Frau am Tresen (Monika Koch) und Maria (Susana Fernandes Genebra) sind Spielfiguren, vielleicht Erinnerungen oder Projektionen. Hoch oben in einem Kämmerchen sitzt der Dichter und schreibt, was gerade passiert. Die Zettel, die er herunterwirft, skandieren das Spiel.

Anna Viebrock hat dafür Büro und Kneipe in einen Raum zusammengebaut, der Uhrzeiger wandert von halb bis acht und fällt auf halb zurück, das schwarzweiße Bodenmuster erinnert an südliche Weinhallen, auf dem Tresen stehen gefüllte Gläser, und die 350 Flaschen, die den Raum wie ein Fries umlaufen, machen klar, wessen Geist hier die heimliche Hauptfigur abgibt.

Christoph Marthaler liebt Kneipen, dort entdeckte er bereits für frühere Produktionen eine Melodie aus Stille, Erzählungen, Liedern, Spielnummern; alle sitzen allein an ihren Tischen und zusammen im Raum, die lose Verbundenheit wird zu einer unaufwendigen, aber dichten Atmosphäre, die auch Pessoas Traurigkeit und Resignation in hauchzarte Komik verwandelt, aus ihr Nonsenswitze à la Max Goldt aufsteigen läßt und ansatzlose Soli trägt: Da beginnen plöztlich alle vier durch den Raum zu hüpfen, die junge Maria singt, einer dreht sich wie eine Figur aus Schlemmers Triadischem Ballett, ein anderer philosophiert zu der Flasche vor sich hin. Aus Solidarität trinkt man gemeinsam, als Martin Horn Maria an sich drückt und gleich darauf hinter den Tresen flüchtet, eilen seine drei anderen Ich herbei und umarmen ihn in rührend komischer Fürsorge. Das Größte und das Kleinste sind untrennbar verbunden; Luzifer sitzt überm Kopf im Spiegel, über Gott redet sich's vor der Toilette, die transzendente Obdachlosigkeit ist nicht rätselhafter als der Wasserstrahl, der gelegentlich alle naß spritzt.

Bisweilen ist es, als schaute man in einen Film Kaurismäkis. Über allem liegt eine Fremdheit, die wir von uns kennen, zu verstehen ist sie nicht. Die Sprache wird zu Brabbelmusik und Ensemble-Ballett, wenn Maria auf Portugiesisch von der Liebe erzählt, vermißt man nichts, zu sehen sind Haltungen abwesender Nähe, ein traumhaft verlangsamter, somnambuler Fado. Vielleicht ist es das, was Pessoa gemeint hat, was jenseits allen Weltschmerzes und portugiesischer Saudade in der Schweiz wie anderswo ein Gefühl unspektakulärer Verlorenheit trifft. Dann hätten Marthaler und seine Crew den traurigen Portugiesen besser verstanden als jeder Kommentar, und wir dürften ohne Skrupel alles Unverständliche, auch unsere Suche nach dem Stück der Inszenierung, vergessen, uns in die Stühle fläzen und nur schauen, wie diese wunderbare, leichte Kunst aus nichts Figuren zaubert.

Fernando Pessoa: Faust. Regie: Christoph Marthaler, Bühne: Anna Viebrock. Theater Basel. Mit André Jung, Josef Ostendorf, Ueli Jäggi u.a.

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