Village Voice: Rödershorst Hartklang Projekt
■ Summer of Noise, zweite Lieferung: Freicore retten das Vinyl, Neon Dorn waren Helden für drei Monate
Nein, Freicore sind kein Fall für den Seelenforscher Theweleit. Wenn überhaupt, dann sollten sich Gerichtsmediziner Dr. Quincy und ein Delegierter der Hals-Nasen-Ohren-Ärzteschaft bereit halten. Schließlich wollten sich Dieter Zobel und Robert Dämming mit ihrer letzten Platte, „Slow Times“, per Gitarre die seltsamsten Wege durch den Hörkörper fräsen.
Was sie bei den heftigen Flaming Demonics und dem Freien Orchester in der ehemaligen Osthälfte gelernt hatten, verschmolzen sie zu todesmetallenem Jazzcore, der auch als melodisch angehauchter Grindcore mit dadaistischen Rap-Einlagen durchgegangen wäre. Macht aber nichts, denn inzwischen waren sie in Röderhorst und erfanden – zum Mißfallen der Dorfbewohner – in einer Scheune den ultimativen Sound der 90er: Trance Ambient Dub Core.
So klingen Strategien gegen Architektur, wenn sie auf Goa entworfen werden. Optimal ausgestattet mit einem dieser coolen Moog-MS-20-Synthesizer, einer Döpfer-Analogmaschine und einem Sampler, reichten ihnen zwei Aufnahmespuren, um mit Unterstützung von Bernd Born (Klarinette, Saxophon) und Gert Anklam (Saxophon) elf Stücke live einzuspielen. Die harten Klänge von selbstgebasteltem Schlagwerkzeug und kraß verzerrter Gitarre werden von sphärischen Loops weichgespült, das dezente Blechgebläse sorgt für ausreichend Düsternis. Das alles auf 180 Gramm Vinyl, die nahezu luxuriöse Verpackung aus schwerem Karton mit eingeprägter Zeichnung von Susanne Rast – es wäre nicht verwunderlich, wenn bei der offiziellen Record- Release-Party im September die letzten Exemplare über den Tisch gingen.
Aus Australien kommt immer wieder prima Musik. AC/DC, Nick Cave, Midnight Oil, Ed Kuepper und Matt O'Donnell – alle from down under und gut drauf. Doch wer in aller Welt käme auf die Idee, dorthin zu gehen, um danach woanders weltberühmt zu werden? Neon Dorn aus Berlin zum Beispiel, die früher Abschaum bzw. Scum hießen und Jesus Lizard supporten durften. Immerhin hielten die drei aus dem „Eimer“ ein Vierteljahr unter südlicher Sonne durch, tourten mit den australischen Indie-Helden von Magic Dirt und gaben in der dortigen Lokalpresse die Geschichte vom wilden Leben an der Spree zum besten. Trotzdem oder gerade deswegen konnten sie auf dem Melbourner Au-Go-Go-Label ihre Debütalbum „Maze“ rausbringen. Doch was Wirrwarr im Irrgarten verspricht, dauert gerade mal 34 Minuten und hat einen entscheidenden Nachteil: Es ist weder frisch gebacken noch gut abgehangen, haut niemanden aus den Socken und greift (David Bowies „Heroes“ ausdrücklich ausgenommen!) auch niemals richtig tief ins Klo. Wieder heißt das Zauberwort Noisepop, und Kim Gordon & Kollegen, Dinosaur Jr. und die Jungs vom Bürgersteig geben den Ton an.
Sag es mit Fugazi, hier sitzen welche im großen Wartezimmer und schauen tatenlos zu, wie sie selbst von obskuren westfälischen Lo-Fi-Rockern locker überrundet werden. Daß sich inzwischen Lindsay Gravina, der australische Steve Albini, um die Neondornen kümmert, läßt allerdings hoffen – das nächste Album kommt bestimmt. Gunnar Lützow
Freicore: „Rödershorst“ (freirecordings), Neon Dorn: „Maze“ (Au Go Go/Headquarter)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen