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Archiv-Artikel

Ritze- ratze! voller Tücke, In die Brücke eine Lücke

Wilhelm Busch war ein Avantgardist, der aus dem Dorf kam: Eine ambitionierte Ausstellung im gleichnamigen Museum in Hannover zeigt zum 175. Geburtstag seine ganze Kunst

VON EDITH SIEPMANN

In unseren wie in den meisten anderen deutschen Bücherregalen standen bestens erhalten und gut sichtbar auf halber Höhe die kunstledernen Schillergoethelessingstormfontane-Ausgaben. Unten, zwischen Weltatlas und Alpenlüneburgerheidebayrischerwald-Bildbänden klemmte der große Wilhelm-Busch-Hausschatz. Trotz leinenbespanntem Hardcover war er aus dem Leim gegangen, abgegriffen und fast zerfleddert. Mit seinen lustig-grausamen Bildchen übte Busch einen unwiderstehlichen Reiz auf alle Altersklassen und Schichten aus: Die Jüngsten erfreuen sich an den die Schule schwänzenden Tunichtguten und dem mitreißenden Versrhythmus – ritze ratze voller Tücke in die Brücke eine Lücke –, die Junggesellen an schnarchenden, schlafmützigen Ehepaaren mit Mäusephobie, die Gutsituierten an Tölpelhaftigkeit und Unbedacht der Jugend nebst erbarmungslos folgendem Kater, die Sünder am Wankelmut des Heiligen.

Der meistgelesene deutsche Dichter starb vor fast einem Jahrhundert und wurde am 15. April vor 175 Jahren geboren. Aus Anlass dieses Doppeljubiläums zeigt das Wilhelm-Busch-Museum Hannover mit zwei aufeinander folgenden Ausstellungen unter dem Motto „Pessimist mit Schmetterling“ das Oeuvre Buschs aus eigenen Beständen in bisher nie zu sehender Bandbreite. Zerrissen zwischen künstlerischer Ambition und selbstgenügsamer Zurückgezogenheit, im Niemandsland zwischen gutbürgerlicher Gründerzeitbehäbigkeit und dem Tempo der nahenden Moderne schuf er nicht nur die berühmten Bildergeschichten, sondern auch Ölgemälde, Zeichnungen, Gedichte und Prosastücke. Dieses umfangreiche Lebenswerk ist in seiner Wirkung auf die künstlerische Avantgarde des 20. Jahrhunderts noch weitgehend unerforscht – die Ausstellung hat den Ehrgeiz, Busch als Vorläufer der künstlerischen Neuerer des 20. Jahrhunderts sichtbar zu machen.

Im Erdgeschoss des am Rande der größten Barockanlage Deutschlands, den Herrenhäuser Gärten, gelegenen klassizistischen Georgenhofs hängen 300 Ölgemälde, Zeichnungen und Skizzen, die Buschs lebenslanges Ringen um die eigene künstlerische Form bezeugen. Nichts davon hat er zu Lebzeiten veröffentlicht. Denn schon früh merkte er schmerzlich, dass er nicht an die verehrten flämischen Meister heranreichte. Seine eigentliche Begabung, die Kombination genialer Verse und karikierender Zeichnungen zu einem berückend pointierenden Ganzen, achtete er trotz Riesenerfolgs in der Öffentlichkeit gering. Er sah diese Arbeit als Broterwerb, auf den er nicht gerne angesprochen wurde. 1872 zog sich Busch aus den großen Städten wieder ganz in sein Heimatdorf Wiedensahl westlich von Hannover zurück und hörte 1884, als er sein Auskommen gesichert hatte, mit den Bildergeschichten auf, um nur noch „nach der Natur“ zu malen. Die letzten, in den 90er-Jahren gemalten, kleinstformatigen Ölbilder abstrahieren immer mehr, die Pinselstriche werden breiter und geradezu heftig, die Farbigkeit nimmt zu. Zum Lebensende hin erreicht Buschs Malerei schließlich eine neuartige Qualität, die mit ihrer Farbauffassung auf den Expressionismus vorausweist.

Über knarzende Stufen erreicht der Besucher das obere Stockwerk des Museums. Beim Weitergehen liefert das Knarren des Dielenbodens den passenden Soundtrack zur Ausstellung. In zehn Räumen wird die Bedeutung Wilhelm Buschs als Avantgardist, als Vorläufer und Inspirator der Moderne gezeigt. Seine Bildergeschichten laufen auf den Comic zu. Sie muten mitunter kinematografisch an, wie etwa die Beichtszene mit dem „Heiligen Antonius von Padua“. Letztere wurde zeitweise wegen Pornografie-Vorwurf aus dem Verkehr gezogen: Die Frau verführt über die Beichte den Pater zu sündhaften Gedanken, was man ihm an seiner sich peu à peu erhebenden Nase und der zwei Hoden karikierenden Bartform schön ablesen kann.

Max und Moritz schafften 1904 den Sprung über den Großen Teich. Amerikanische Zeichner dachten sich deutschsprachige Böse-Buben-Streiche für heimwehgebeutelte Einwanderer aus. Randolph Hearst verlegte sie in den – nun in Hannover ausgestellten – „Lustigen Blättern“. Walt Disney ließ seine Zeichner inhaltlich wie grafisch an den Vorbildern von Wilhelm Busch schulen, zwei frühe Trickfilme demonstrieren dies. Und wer hätte gedacht, dass Kafka und Wittgenstein Busch-Fans waren? Der Dichter liebte die beklemmende Stimmung der Erzählungen, der Philosoph die Metaphysik, die er in den Zeichnungen zu spüren glaubte.

Seit Zusammenkunft der Neuen Frankfurter Schule in den 60ern bekennen sich deren Protagonisten zu Busch als Hausheiligen und Ahnherr. Robert Gernhardts „Max und Moritz“-Nachdichtung zum studentischen Busenattentat auf Professor Adorno gibt furioses Zeugnis davon: „Eben strebt in sanfter Ruh / Adorno seinem Hörsaal zu. / „Ach!“ denkt er, „Die größte Freud / ist doch die Begrifflichkeit!“ / Rums! Da ziehn die beiden los / und vier Brüste schrecklich groß, / jäh befreit von allen Stoffen, / herrlich bloß und gänzlich offen. / Ragend, dräuend, drohend, schwellend, / allen Geist in Frage stellend.“ Gernhardt zieht damit eine Parallele vom großen Knall der Moderne, der mit der Explosion der Lämpel’schen Pfeife das Ende der Gemütlichkeit einläutete, zur sexuellen Revolte der 60er-Jahre, die den biederen 50ern den Garaus machte.

Ein wenig bekanntes Prosa-Spätwerk Wilhelm Buschs ist „Eduards Traum“ von 1891, in dem er einen Familienvater in das Traumreich entlässt, wo dieser – auf Punktgröße zusammengeschnurrt – eine surreale Reise heraus aus der dreidimensionalen Welt durch verschiedene geometrische Dimensionen und menschliche Situationen antritt. Es ist daneben eine Absage an die Utopie: Wo immer Eduard hinkommt, herrschen Eigennutz, Niedertracht, Dummheit. Eine Gesellschaft, in der es gerecht zuginge, böte den Menschen nichts zu lachen: denn Lachen – und hier trifft sich Busch mit Adorno – ist immer Verlachen.

Dieser Geschichte widmet sich der Mittelteil der Ausstellung. Auf Einladung des Busch-Museums haben drei durch das Museum der Dinge/Werkbundarchiv geschulte Berliner Ausstellungsmacher das, was Eduard im Traume erlebt, in poetische Rauminstallationen übersetzt – mehrdimensional, versteht sich. Unvermittelt tritt der Ausstellungsbesucher durch einen Vorhang mitten hinein in Szenen der Erzählung. Schnarchend liegt da Eduard in seinem Ohrensessel inmitten der überornamentierten, gruseligen Gemütlichkeit eines Gründerzeitinterieurs. Über das reale Zimmer und das geträumte arithmetische Städtchen rast eine kalte Zahlenwelt hinweg, ein Vorschein der Moderne. Von nebenan keift die Ehefrau: „Eduard, schnarche nicht so!“

Das späte 19. Jahrhundert gefiel sich in Mutmaßungen über die 4. Dimension, auch Busch/ Eduard interessiert sich dafür. Wie Marcel Duchamp nimmt er Platons Höhlengleichnis zum Anlass, darüber zu spekulieren, ob nicht auch die dreidimensionalen Wesen und Dinge nur Projektionen aus einer vierdimensionalen Welt seien und so weiter. Den insgesamt drei vielschichtigen Rauminszenierungen gelingt es auf faszinierende Weise, Busch in eine unabgegriffene Formensprache zu übersetzen und Neugier auf seine Prosa zu wecken.

Beim Verlassen des Museums fallen ringsum auf den großen Rasenflächen kleine, sich pyramidenartig erhebende, schwarze Haufen ins Auge. Wilhelm Busch hätte es wohl gefreut zu sehen, wie sie immer mehr werden, allen Mühen der Gärtner zum Trotz. Darüber hinweg schaukelt ein gelber Zitronenfalter und nimmt weder Anteil an den Gärtnern noch an den Maulwürfen.

„So viel Busch wie nie. Malerei und Zeichnungen“, bis 3. Juni. „Wilhelm Busch, Avantgardist aus Wiedensahl“, bis 18. November. Katalog, hrsg. v. der Wilhelm-Busch-Gesellschaft Hannover, 280 Seiten, 300 meist farbige Abbildungen, 42 €