: Risse im Beton
■ Die Koalition verändert das Sparpaket
Ein wenig erinnerte das Szenario an den Untergang des Realsozialismus. Das Volk ging auf die Straße, die Politiker blieben starrsinnig. Nach der Bonner Demonstration, die auch in eher gewerkschaftsfernen Blättern eine gute Presse hatte, hörte man aus Koalitionskreisen unisono Ablehnung. Eine Versammlung von „Berufsnörglern“ entdeckte Kohl, Guido Westerwelle grinste gutgelaunt in die Kamera und meinte, daß die Kürzungen noch gar nicht weit genug gingen.
Nun ist die Koalition, nach einer Ankündigung Kohls, minimal von ihrem Betonkurs abgerückt. CDU und FDP haben gestern beschlossen, die Anhebung der Altersrente für Frauen um drei Jahre zu verschieben. Offenbar ist auch im Raumschiff Bonn angekommen, daß am Samstag keine linken Weltverbesserer, Peaceniks oder andere Außenseiter unterwegs waren, sondern ein einigermaßen repräsentativer Durchschnitt, die Mitte der Gesellschaft gewissermaßen. Und dies eben nicht nur, weil sie uneinsichtig den Status quo verteidigen will, sondern weil das Sparpaket die sozial Schwachen benachteiligt und die Reichen bevorzugt. Deswegen ist der Streit um das Sparpaket kein bloßer Kampf um (offenbar unrechtmäßige?) „Besitzstände“ (Kohl), sondern eine Auseinandersetzung um Gerechtigkeit und damit eine fundamentale Frage des gesellschaftlichen Selbstverständisses.
Gewiß, das Sparpaket schafft den Sozialstaat nicht ab, und manche gewerkschaftliche Übertreibung kann man getrost als üblichen Schlachtenlärm abbuchen. Trotzdem: Das Sparpaket ist eine Richtungsentscheidung, gerade weil die Haushaltslöcher in den nächsten Jahren noch größer werden. Dieses Signal ist eindeutig: In der Krise sollen die Armen bluten. Und die Krise ist nicht temporär, sondern strukturell. Weil der Gesellschaft die Arbeit ausgeht, müssen nicht nur die sozialen Systeme neu definiert werden, sondern auch, was Solidarität noch heißen kann.
Die Verschiebung der Anhebung des Frauen-Rentenalters ist ein taktischer Rückzug der Koalition, um die aufgebrachten Gemüter zu beruhigen. Am Kurs ändert er nichts. Aber er könnte eine gewisse Dynamik entfalten. Wenn die Anhebung der Frauenrente zur Disposition steht, warum nicht auch die Abschaffung der Vermögenssteuer? Stefan Reinecke
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