Riesen-Basar in Moskau: Aus für den Markt der Märkte
Nach der Schließung des Moskauer Super-Supermarkts Tscherkisowski versuchen tausende Händler an ihre Waren zu kommen - bisher vergeblich.
Der junge Mann in schwarzen Shorts und T-Shirt steht unter Strom. Er springt herum und schnauzt die Leute an. Wütend schießt er auf die Menge zu, sobald sich jemand aus der Masse löst, was immer wieder passiert, und droht mit dem Stumpf einer Kleiderstange. Regelmäßige Flüche in einem fremden Idiom legen einen zahnlosen Unterkiefer frei. Nur einer der Umstehenden scheint seine Sprache zu verstehen, doch gereicht ihm die ethnische Verwandtschaft nicht zum Vorteil. Auch er kassiert einen kräftigen Hieb. "Feldwebel, wohin du schaust", meint eine ältere Russin. Es ist die Stunde selbst ernannter Hilfspolizisten. Der Mann mit dem Rohr reguliert den Zugang zum Gitter. Hinter der Absperrung wartet die richtige Polizei. Omonzy, Spezialeinheiten des russischen Innenministeriums. Gelangweilt schieben sie die Sperre beiseite, wenn wieder ein Laster passieren darf.
Seit Wochen spielen sich auf dem Tscherkisowski-Markt in Moskau die gleichen Szenen ab. Ende Juni ließ die Stadtverwaltung Europas größten Basar schließen. Ohne Vorwarnung. Nächtens umstellte die Miliz das riesige Areal von 200 Hektar und riegelte die Zufahrtsstraßen ab. Eine unsichtbare Wand trat zwischen Ware und Händler.
Wer es nach Wochen bis ans Gitter, das letzte Nadelöhr, geschafft hat, kann glücklich sein. Er ist seinem Hab und Gut in den Containern näher gerückt. Die schwierigste Hürde, in den Markt hineingelassen zu werden, liegt hinter ihm. Tausend Rubel (rund 25 Euro) kostete ein Platz auf der Warteliste. Zehn Tage habe sie vor dem Eingang ausgeharrt, erzählt eine Kirgisin, die mit Heilkräutern und Balsam handelt. Die Maut bis zum Container, wo ihre Sachen liegen, war Verhandlungssache. Ein Vielfaches wird noch der Wegezoll kosten, um die Ware heil und ganz herauszuschaffen. 3.000 Rubel (rund 75 Euro) sind zurzeit der Richtpreis. Russlands ungeschriebene Gesetze sind ehern. Bläst der Staat zur Ordnung, beginnt die Treibjagd der Blutsauger. Wer sich nicht bedient, ist selbst schuld.
Der Tscherkisowski war ein Super-Markt, ein Markt der Märkte, der zehn Basare unter einem Dach beherbergte, den "Eurasia" oder den "Sirenewaja", mit 25.000 Ständen, Geschäften und hunderten Cafés. Ein babylonisches Labyrinth, in dem sich Händler aus allen Himmelsrichtungen einnisteten. Chinesen, Aseris, Sikhs, Kirgisen und Kaukasier, Koreaner, Vietnamesen oder Uiguren, Tadschiken und Bergjuden. Ein Vielvölkerstaat mit eigenen Regeln innerhalb Moskaus Mauern. Es gab nichts, womit nicht gehandelt wurde. Brautkleider und Pelze, Feuerwerkskörper und Stiergenitalien, östliche Massagen und Dolmetscherdienste, Rauschgift und Liebesdienste. Vietnamesische Zahnärzte zogen Zähne für 10 Euro, die Kollegen aus Aserbaidschan wurden wegen der soliden Plomben geschätzt. Gynäkologen praktizierten gegenüber dem Haupteingang, und der Allgemeinmediziner Doktor P. warb um Patienten: "Dr. P. kuriert alles." Der "Tscherkison", wie ihn wohlhabende Moskauer naserümpfend nennen, war zwischen den Karpaten und Kanton das zentrale Handelskreuz, wo sich russische Händler aus der Provinz mit Billigwaren eindeckten. Ob aus Kirow im Norden oder Krasnodar, der Pforte zum Kaukasus, täglich steuerten tausende Busse den Knoten an. Rund 125.000 Menschen sollen hier gearbeitet, viele auch gelebt haben.
Als die Stadtverwaltung gegen den Staat im Staate vorrückte, hieß es zunächst, die "unerträgliche Kloake" würde für einige Tage zu "Reinigungszwecken" geschlossen. "Wir wussten gleich, dass das nicht stimmt", meint Raschid, ein tadschikischer Lagerarbeiter. Tausende seiner Landsleute schuften auf dem Markt. Die Arbeiter gehören der untersten Kaste an. Die meisten hausten in Containerwaben, ohne das Areal jemals zu verlassen. Sie waren illegal ins Land gekommen. Die Marktgesetze schützten sie vor den Behörden. Die Miliz traute sich nicht hinein und wachte nur über die Ausgänge. Für unerfreuliche Vorfälle ließ Duschanbe in der Nachbarschaft dennoch ein Konsulat eröffnen.
Drohungen, den euroasiatischen Sündenpfuhl auszutrocknen, hatte es in den Vorjahren häufiger gegeben. Doch es kam nie so weit. Das ließ auf Protektion der Marktbetreiber in mächtigen Positionen schließen. Als Russlands oberster Chefermittler, Alexander Bastrykin, im Juni indes von einer "Schlangengrube" sprach und Strafverfahren wegen Markenfälschung und Schmuggel ankündigte, klang das nach Gefahr im Verzuge. Stoßtrupps der Feuerwehr und der Hygieneaufsicht rückten aus, die traditionelle Vorhut der Strafermittler, der die Aufgabe zufällt, die Kampfmoral des Gegners schon im Vorfeld zu zersetzen. Prompt stießen Hygienebeamte auf giftiges Spielzeug aus dem Reich der Mitte und meldeten mit Verzug drei Dutzend Syphiliserkrankungen aus dem vergangenen Jahr. Ein bisschen xenophobe Stimmungsmache gehört dazu, wenn Behörden zum Ausmisten blasen.
Wadim und Olga sind junge Russen und Zaungäste, die von außen auf die verwaisten Hallen schauen, dort, wo früher die Gynäkologin M. praktizierte. Ein Zettel der Marktverwaltung klebt noch an den Gitterstäben: "Mietzahlungen werden nicht mehr entgegengenommen."
"Billig wars schon", sagt Wadim. Seine farbenfrohe Tarnanzughose und das gelbes T-Shirt stammten vom Markt, auf dem sich die ärmere Klientel einkleidete. "Schade. Aber wenn Schmuggelware verkauft wird, muss die Obrigkeit einschreiten", meint Wadim staatstragend. Obwohl gerade Millionen wie er, die von der Hand in den Mund leben, gebeutelt sind. Dass die "Obrigkeit einschreitet" ist eine Wendung von besonderer Tragik, die die Botschaft von unverhältnismäßigen Kollateralschäden enthält. Die russischen Händler, ein Zehntel der Kaufmannschaft, hat es denn auch am schlimmsten erwischt. Sie haben keine Lobby, sind unorganisiert und können sich nicht wehren.
Anders die Chinesen. Sie machten Druck, wenige Tage nach der Schließung sprach ein Handelsminister aus Peking im Kreml vor. Den umtriebigen Nachbarn wurden Plätze auf anderen Märkten zugesichert. Auch die Vietnamesen, die die anderen Marktbewohner wegen ihrer leisen Emsigkeit tarakantschiki nennen, was einem Diminutiv von "Kakerlaken" entspricht, lassen sich nicht einfach platt treten. Stoff für ein vergleichendes Lehrstück über Freiräume, Selbstachtung und Persönlichkeitsbildung auch in autoritären Gesellschaften.
Den Startschuss zur Räumung gab Wladimir Putin. Vor der Sommerpause stauchte der Premier seine Ministerriege vor laufender Kamera noch mal wie Pennäler zusammen: Der Kampf gegen den Schmuggel, donnerte Putin, sei ins Stocken geraten. Vor zwei Jahren habe er die oberen Etagen des Zolls auseinandergejagt - und was sei bisher geschehen? Noch immer stünden "auf einem der Märkte" Container mit zwei Milliarden Dollar Schmuggelware. "Verhaftungen! Wo sind die?", zürnte der Regierungschef. Die Anspielung auf den Tscherkisowski hatten alle verstanden, die Sicherheitsmaschine lief an. Nur verhaftet wurde niemand.
Telman Ismailow, Chef des verzweigten Firmenkonglomerats AST und Besitzer des Marktes, amüsierte sich schon an Kleinasiens Riviera. Der Eigentümer des größten Billigmarkts in Europa hatte soeben in Antalya ein sündhaft teures Luxushotel eingeweiht und flugs einen Antrag auf die türkische Staatsbürgerschaft gestellt. Anderthalb Milliarden Dollar investierte Telman, der seinen Vornamen der Hochschätzung des Hamburger Arbeiterführers Ernst Thälmann in Sowjetzeiten verdankt, in den nach seinem Vater benannten "Mardan Palace". Das ist so üblich im Kaukasus, der Wiege der Ismailows. Die Familie gehört zur Minderheit der tatisch sprechenden Bergjuden, einer alteingesessenen Ethnie, die im 6. Jahrhundert aus dem aserbaidschanisch-iranischen Siedlungsgebiet in die kaukasischen Berge zog und den Glauben bis heute bewahrte.
Eine Synagoge fehlte auch auf dem Tscherkisowski nicht. Der Palast aus Gold und Kristall soll ein Refugium für höchste Ansprüche werden. Ismailows Hang zur Exzentrik ist bekannt, gerne lässt er Gäste von Kellnern in Leopardenfellen bedienen. In Kreisen der Macht war er gut gelitten. Mit 600 Millionen Dollar Vermögen zählt er zu den eher kleinen Fischen unter den Besserverdienern. Die Forbes-Liste führt ihn auf den hinteren Rängen der Top Hundert.
Warum tobte Wladimir Putin plötzlich? War es die extravagante Eröffnungsfeier, für die der Basarmogul Richard Gere, Monica Bellucci, die Hilton und Mariah Carey einfliegen ließ, um dem Event Glamour zu verleihen? Über 100 Kilo Belugakaviar wurden am künstlichen Strand gereicht, der Sand war aus Ägypten eigens herangeschafft worden.
Oder geriet Putin in Rage, weil Fernsehzuschauer daheim Zeuge wurden, wie Russlands halbseidener Geldadel im Schulterschluss mit der Politik der Krise trotzt? Mit von der Partie in Antalya war Moskaus Bürgermeister Juri Luschkow, dem die Ehre zuteil wurde, das rote Bändchen zum Atrium des Palace durchzuschneiden. "Du bist einer von uns, du bist unser Bruder", verfiel Luschkow ins Sizilianische. Das war nicht so dahergesagt. Die beiden hatten sich in schweren Zeiten kennengelernt. Telman war ein kleiner Budenbetreiber, mit beiden Beinen noch in der Schattenwirtschaft, Luschkow ein ambitionierter, aber mittelloser Angestellter im Wirtschaftsressort. Sein einziges Kapital war Jelena Baturina, die Sekretärin, die den späteren Stadtvorsteher ehelichte und zur Dollarmilliardärin aufstieg.
Moskau rätselt. Wollte Putin vielleicht die nimmersatten Stadteigentümer warnen? Der hastige Vollzug der Behörde stimmt zumindest nachdenklich. Spurenbeseitigung?
Oder sorgt sich Putin um das Wohl der heimischen Leichtindustrie, die der chinesischen Konkurrenz nicht gewachsen ist, wie das Wirtschaftsblatt Wedemosti vermutet? Jährlich gehen dem Staat durch die Importe rund 14 Milliarden Euro verloren. Nur - denkt die Regierung in solchen Dimensionen? Die Schließung trieb in Moskau Tausende in den Ruin, weit mehr noch in der Provinz. Auch Wadim und Olga müssen nun tiefer in die Tasche greifen.
Ein Monat ist inzwischen verstrichen, und noch immer liegen drei Viertel der Güter in den Containern. Ächzend zieht ein Chinese seinen Karren am Kontrollpunkt vorbei. Kaum passiert er das Gitter, bricht unter der Last der Ballen und Bündel ein Rad ab. Erschöpft lässt er sich zwischen einer kopflosen Schaufensterpuppe und der letzten aktiven Händlerin nieder. Sie bietet reißfeste Kunststoffsäcke feil.
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