: Revolutionäres Oberammergau
■ „Große Freiheit '89“ - die Hauptinszenierung der diesjährigen Ruhrfestspiele
Gewerkschaft und Revolution - das ist wie Feuer und Wasser. Besitzstandswahrung, das ist das Hauptziel des DGB. Er ist die strukturkonservative Massenorganisation. Revolution ist heute Unternehmersache. Dennoch ist das Thema der DGB -eigenen Ruhrfestspiele in diesem Jahr: Revolution. Aber natürlich, die französische, die von 1789. Revolution - das Schreckenswort der sechziger, die fetischisierte Worthülse der siebziger Jahre, heute ist sie das Sonderangebot im Supermarkt der Geschichte. Große Freiheit '89 nennt sich doppeldeutig die diesjährige Hauptinszenierung. 1789 ging es sicher um die große Freiheit, 1989 wohl eher um die große Beliebigkeit.
Das Spektakel beginnt volkstümlich wie ein Kleinstadtjubiläum mit einem Umzug in historischen Kostümen. Vorweg der Fanfarenchor, dann tummeln sich vor dem Festspielhaus Figuren der Revolutionszeit: Goethe deklamiert seinen Prometheus im Baum, auf der Wiese räkeln sich Rokkoko-Damen bei Schäferspielen, durch den Hohlweg unter der Brücke flüchtet Louis XVIieme zu Pferde, Sylvain Marechal schleudert vom Balkon die rhetorischen Blitze seines „Manifestes der Gleichheit“ unter die Menge. Man versteht: Revolution ist, wenn alle gleichzeitig reden. Und die Autonome Frauengruppe Recklinghausen redet mit: „Freiheit für Ingrid Strobl“. Im Programmheft sind die Autonomen als Mitwirkende aufgeführt, nur, welche Rollen sie spielen, wird nicht erwähnt. Richtiges Revolutionstheater mit echten Schafen, echten Pferden, echten Flugblättern.
Vorbei an Bauern mit Feldfrüchten aus der Vendee, telefonierenden Revolutionsberichterstattern, debattierenden Konventsmitgliedern bahnt man sich dann den Weg in den Theatersaal des Festspielhauses. Und dann kommt der erhabenste Moment des Revolutionsschauspiels: Alle Zuschauer stehen auf der Bühne im Scheinwerferlicht (schon wieder eine Revolution), über ihnen erhebt sich dunkel der Bühnenturm, in den Seitenbühnen, auf der Hinterbühne, im Zuschauerraum sind Bühnenbilder aufgebaut. Und von oben herab aus dem schwarzen Turm schwebt der Engel der Revolution herab: Hans -Peter Minetti mit phrygischer Mütze und Kokarde. Mit Händen und Füßen redet er auf uns ein, redet als freigewordener Franzose uns unterdrückten Deutschen ins Gewissen, auch Revolution zu machen.
Danach sind die Zuschauer frei, frei zu wählen, welches Stück sie sehen wollen: Kotzebues antifeministische Farce Der weibliche Jakobinerklub von 1791, Goethes antirevolutionäres Lustspiel Der Bürgergeneral von 1793 oder ein Paris-Tahiti genanntes Eigenprodukt des Ensembles über die beiden deutschen Revolutionäre Georg Forster und Adam Lux. Dann geht jeder Zuschauer in den Raum seines Stückes, die eisernen Vorhänge senken sich, und simultan werden die drei Stücke gespielt. Sich für die Uraufführung des Forster-Stückes zu entscheiden, war sicher ein Fehler. Mehr als eine schlecht collagierte Zitatenmischung, vorgetragen zu begleitenden Turnübungen, ist das nicht. Wenn die eisernen Vorhänge sich beim Schlußbeifall wieder heben, beklatscht überrascht das eine Publikum das klatschende andere: perfektes Timing.
Dann wieder: Hans-Peter Minetti (Minetti der Jüngere, der DDR-Theaterfunktionär), diesmal als Immanuel Kant. „Was ist Aufklärung?“ fragt er und doziert von der Hebebühne herab umständlich, listig, sanft, aber eindeutig. Dann: Pause. Aber eine Revolution macht keine Pausen, unentwegt wird weitergespielt, am kalten Büffett und in der Garderobe: Kant hält ein Privatissimum über den Fortschritt der Menschheit, der Gewerkschaftschor johlt „ca ira“, auf den Toiletten wird der „Säuberungskatalog der Volksgesellschaft in Rochefort vom 5.März 1794“ rezitiert. Die Revolution geht weiter: Auf der Hauptbühne folgt Die Schüler von Varennes, eine choreographische Etüde des Regisseurs Pavel Mikulastik. In einem Stil zwischen Pina Bauschs tänzerischen Variationszyklen und Einar Schleefs Stampftheater wird die Entwicklung vom anarchistischen Naturzustand zur Monarchie und zur Revolution nachvollzogen.
Die Revolution ist noch lange nicht zu Ende. Es folgt ein szenisches Oratorium für großes Orchester, drei Chöre, Schauspieler und Sänger - Die Befreiung, komponiert vom Hausmusiker des Ensembles Wolfgang Florey. Der Prozeß gegen Louisieme wird zu wirkungsvoll elektrischer Musik nachgesungen. Das bunte, turbulente Historiengemälde hat einen leisen, intensiven Schluß: Zu einer an Weberns sparsame Klänge erinnernden Begleitung von Hörnern und tiefen Streichern zieht eine Frau aus dem Volk im Sprechgesang die Summe aus den Erfahrungen der Revolution: „Endlich nicht mehr nichts, mehr nicht als ein Menschengeschlecht. Das ist nichts?“
Aber die Revolution schreitet unerbittlich fort: Zum Nachspiel geht's ins Kneipenzelt vor das Festspielhaus zu Arthur Schnitzlers Einakter Der grüne Kakadu. Was Theater ist und was Wirklichkeit, was Revolution, was Revolutionstheater, das geht in diesem Stück unentwirrbar ineinander über. Theater auf dem Theater, Kneipentheater im Kneipentheater. Theatertheater... Nach genau fünf Stunden Revolution revolviert einem der Kopf: genau der richtige Zustand, um Schnitzlers schwindelerregende Verwicklungen zu verfolgen.
Groß ist diese Inszenierung sicher, schließlich spielen 300 Schauspieler, Musiker und Laien mit, und frei ist der Zuschauer auch, irgend etwas verpaßt man immer. Aber die Gigantomanie des Projektes setzt nur die öffentliche Jubiläumshektik fort: Erinnerung bis zur Besinnungslosigkeit.
Das Ruhrfestspielensemble spielt seine Trümpfe aus: die Größe des technischen Apparates, die Verknüpfung mit dem gewerkschaftlichen Umfeld, den Fleiß seiner Dramaturgie. So läßt sich ohne viel Geld „großes“ Theater machen. Nach solch einer spektakulären Produktion kann keiner mehr dem Ruhrfestspielensemble die Existenzberechtigung absprechen. Aber die Verwandlung in ein gewerkschaftliches Oberammergau ist keine Lösung für die Zukunft der Ruhrfestspiele.
Gerhard Preußer
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