Revolution in Ägypten: Den Toten Namen geben
Eine US-Menschenrechtsaktivistin veröffentlicht die Namen von Menschen, die bei den Protesten in Ägypten starben. Aber wie seriös sind die Angaben und was bringt das?
Am 2. Februar ging Mahmoud Maher, Arzt aus Kairo, auf den Tahrir-Platz, um sich dort um die Verletzten zu kümmern. Als er auf dem Platz stand, inmitten von Freunden, kamen Mubarak-Anhänger auf ihn zu und schlugen ihm auf den Kopf. Immer wieder. Bis er starb.
Diesen Vorfall schilderte Parvez Sharma, der die Ereignisse auf dem Blog mondoweiss.net zusammentrug. Dies sei, schrieb er, einer der ersten Augenzeugenberichte mit Hintergründen und einem Namen zu einem der vielen gesichtslosen Toten, die es die letzten Tage in Ägypten gegeben habe.
Und obwohl das in dieser Absolutheit nicht stimmt, traf dieser Blogeintrag doch ein Bedürfnis der Ägypter: den Opfern eine Identität zuzuordnen. Am Freitag, als der Artikel online ging, begann einer seiner Kommentatoren, Namen von Opfer zusammenzutragen: Eslam Bakir, 22 Jahre alt, Universitätsabsolvent. Ahmed Ehab. Ahmad Basiouny, 31 Jahre alt, Kunstlehrer, Vater zweier Kinder.
Eine schmucklose Google-Tabelle
Am gleichen Tag startete die Seite //spreadsheets.google.com/lv?authkey=CLT_xkU&hl=en&key=to1CuqGTONV4Bu6ywvxID1Q&toomany=true:"Killed in Egypt", ein Totenbuch für die Opfer der Proteste. Dort sind die Namen aus Sharmas Blog verzeichnet, 65 Einträge stehen dort bereits. Es ist eine Google-Tabelle, schmucklos wie eine Geschäftsbilanz. Die Kategorien: Name. Alter. Beschäftigung. Todesort. Todeszeitpunkt. Foto. Quelle. Dieses Totenbuch ist die Abrechnung mit der Gewalt.
Es war Joanne Michele, eine US-amerikanische Menschenrechtlerin, die die Seite initiierte. Sie bittet darum, ihr Informationen und Korrekturen per Mail zukommen zu lassen, die sie dann in die Liste einarbeitet. Joanne Michele sitzt in Washington, D. C. und arbeitet für die NGO "A Safe World for Women" als Iran-Korrespondentin. Viel mehr ist über sie nicht im Netz herauszufinden. Umso schwieriger ist es, den Wahrheitsgehalt der Liste zu bewerten.
Denn an den harten Fakten der Liste zu zweifeln, ist leicht: Bei näherer Betrachtung ergeben sich einige Unsicherheiten. Warum beispielsweise datiert der erste Todesfall auf der Liste vom 17. Januar - obwohl die Unruhen zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht begonnen hatten? Und sind Ali Hassan, gestorben am 3. Februar auf dem Tahrir-Platz, und Ali Hassan Ali Mahran, am selben Tag und am selben Ort gestorben, tatsächlich zwei unterschiedliche Personen?
Warum reicht für manche Todesfälle als Quelle ein einfacher Tweet oder eine Facebook-Meldung? Wer überprüft die eingesandten Fakten - und nach welchen Kriterien wird die Liste erstellt? Und wie kommt es zu der auf der Seite veröffentlichten Bitte Ahmad Mahmouds, er wolle nicht auf der Liste auftauchen, schließlich sei er noch am Leben?
Amnesty International ist skeptisch
"Wir übernehmen solche Listen nicht ungeprüft", sagt Ruth Jüttner, Nahost-Expertin von Amnesty International. "Eine vollständige Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen ist sowieso nicht zu leisten." Ziel ihrer Organisation sei es, Menschenrechtsverletzungen exemplarisch aufzuzeigen und nicht über die Masse.
Das habe einen ganz pragmatischen Hintergrund: "Wenn wir einer gezielten oder zufälligen Desinformation aufsitzen, verlieren wir unsere Glaubwürdigkeit", sagt Jüttner. Sie stehe solchen Listen eher ambivalent gegenüber, sagt sie. Einerseits habe eine solche Veröffentlichung natürlich Mobilisierungspotenzial. "Aber andererseits besteht die Gefahr, die Persönlichkeitsrechte der Opfer zu verletzen."
Zum Beispiel im Iran beim Fall Neda geschehen. Sie war auf einer Demonstration nach den Wahlen 2009 von einer Kugel, offenbar aus dem Gewehr eines Basij-Milizionärs, getroffen worden. Das Video, das ihr Sterben zeigte, ging millionenfach um die Welt. Einige Zeitungen druckten im Netz kursierende Fotos, von denen sie annahmen, darauf sehe man diese Neda. Tatsächlich aber zeigte das Bild eine andere Frau, die nach den Veröffentlichungen festgenommen wurde und fliehen musste. Inzwischen lebt sie als Asylsuchende in Deutschland.
Was eine Vermisstenliste im Netz bewirken kann, illustriert der Fall von Whael Ghonim, Blogger und Google-Mitarbeiter. Er hatte seinem Ärger über das Mubarak-Regime per Twitter Luft gemacht. "Eine Führung, die sich vor Facebook und Twitter fürchtet, sollte ein Farmville-Dorf regieren, aber kein Land wie Ägypten", schrieb er am 26. Januar.
Bedürfnis nach Transparenz
Tags darauf meldete er sich nochmals mit der Bitte, man möge für Ägypten beten. Er habe Angst, dass die Regierung ein Kriegsverbrechen am Volk begehen werde, und schloss mit den Worten: Wir sind alle bereit zu sterben. Danach blieb sein Account stumm.
Einige Aktivisten und Freunde Ghonims begannen, sich Sorgen zu machen, und veröffentlichten sein Foto mit der Bitte an Leser in Kairo, nach Ghonim Ausschau zu halten. Und sie setzten eine Liste mit vermissten Personen auf. 25 Menschen konnten dadurch gefunden werden, inzwischen umfasst das Google-Dokument noch sieben weitere Namen. Und Wahl Ghonim? Er ist nach mehreren Tagen Haft am Montag freigelassen worden, bestäigt Google.
Das Bedürfnis nach Transparenz ist groß - gerade in einem Land, das sich so sehr gegen jeden Informationsfluss sperrt wie aktuell Ägypten. Das Totenbuch von Michele ist ein Versuch, den Toten der Revolte in Ägypten ein Gesicht zu geben, die Ereignisse fassbar zu machen.
Im besten Fall ist dieses Totenbuch ein nichtmusealer Gedenkstein im Netz, der an die Opfer des Tahrir-Platzes erinnert. Im schlechtesten Fall bedient die Seite nur westliche Voyeure.
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