: Revolte in Japans Regierungspartei
■ Die Miyazawa-Regierung könnte noch diese Woche stürzen / Exekutivrat wollte Reformen blockieren
Tokio (taz) – Für Japans Regierungspartei sollte gestern die Stunde der Wahrheit schlagen. Nach vier Jahren Skandalregime, in denen die Liberal-Demokratische Partei (LDP) drei Premierminister und ihren wichtigsten Mann, den Fraktionsvorsitzenden Shin Kanemaru, übers Messer gehen ließ, stand endlich die politische Umkehr bevor. Am Dienstag trat deshalb der dreiköpfige LDP-Exekutivrat zusammen, um nach Monaten parteiinterner Diskussionen die endgültige Version eines neuen Wahlgesetzes zu verabschieden, dem Kern des Reformprogrammes der Regierung. Damit sollte sich Japan, von Kritikern schon zum Einparteienstaat ausgerufen, eine neue politische Ordnung geben, die auf Dauer das Entstehen zweier großer Parteien begünstigen würde. Vorbei mit der Klientelwirtschaft der LDP: politische Spenden sollten zusätzlich begrenzt und nur noch unter öffentlicher Transparenz direkt an die Partei ausgezahlt werden.
Doch die LDP-Parteispitze sagte gestern die Revolution ein- für allemal ab. Nach Monaten der Entscheidungslosigkeit innerhalb der Partei trat der Exekutivrat zusammen – und entschied wieder nichts. Inzwischen hatte der parteiinterne Gegenspieler Ozawas, LDP-Generalsekretär Seiroku Kajiyama, das Nichtstun zum politischen Programm erkoren. „Wir machen keinen faulen Kompromiß“, wischte der Status-quo-Politiker Kajiyama alle Vorlagen vom Tisch. „Wir werden Reformen erst in zwei Jahren durchsetzen können, wenn wir die Mehrheit im Oberhaus zurückerobert haben.“
Damit zuckte die LDP-Spitze auch vor der zweiten Auseinandersetzung zurück, die ihr im Falle der Einigung auf ein neues Wahlgesetz bevorgestanden hätte – nämlich die Suche nach einem Kompromiß mit den Oppositionsparteien, die mit ihrer Mehrheit in der zweiten Parlamentskammer, dem Oberhaus, derzeit sämtliche Gesetze bis auf den Staatshaushalt blockieren können. Statt dessen überbrachte der Exekutivrat seiner Partei nur eine klare Botschaft: Schluß mit dem Reformgeplapper. Wir gewinnen die Wahlen sowieso!
Dann aber geschah das Unvorstellbare: Die Partei muckte auf, Abgeordnete legten sich quer, und noch am gestrigen Tag sproß und blühte plötzlich eine Parteirevolte, wie sie die LDP seit ihrer Gründung 1955 kaum erlebt hatte. Nicht einmal vor spektakulären Handgreiflichkeiten gegenüber den Parteibossen schreckten junge LDP- Abgeordnete zurück, als sie die Sitzung des Exekutivrates in Mutlangen-Manier blockieren wollten.
Für den Tag entscheidend aber war die spontane Bereitschaft der Verweigerer, sich über die üblichen internen Gruppenzugehörigkeiten hinweg zu koordinieren. Ihr gestriges Treffen dokumentierte eine sensationelle Spaltung der LDP: Immerhin 159 Abgeordnete, darunter 128 Mitglieder der 281köpfigen Fraktion im mächtigen Unterhaus waren gekommen. Da saßen plötzlich der Reformer Ozawa und sein früherer Gegenspieler, Ex-Premierminister Toshiki Kaifu, gemeinsam auf der Protestlerbank. Die LDP, seit Jahrzehnten nur in Loyalitäten zu ihren unterschiedlichen Führungsfiguren gespalten, trennte sich plötzlich in nie dagewesene Sachkoalitionen. Reform oder nicht Reform? Zumindest einen Tag lang vollzog sich hier die Grenze. „Der Beschluß der Partei würde bedeuten, daß wir das Volk belogen haben“, empörte sich der ehemalige Erziehungsminister Kunio Hatoyama, ein Mitglied ausgerechnet jener Parteigruppe, der auch LDP- Generalsekretär Kajiyama angehört. Schon glauben japanische Beobachter, daß ein Mißtrauensantrag der Opposition noch in dieser Woche die Regierung von Premierminister Kiichi Miyazawa stürzen könnte. Der aber hatte am Dienstagabend sein letztes Wort noch nicht gesprochen: Wird Miyazawa die am Sonntag auslaufene Parlamentssaison verlängern, um das neue Wahlgesetz doch noch zu verabschieden? „Die Abgeordneten entscheiden über Gesetze“, schrieben die 159 LDP-Parlamentarier gestern in ihrer Protestresolution. Diese Maxime ist so einfach, daß sie den japanischen Parlamentarismus sprengen könnte. Georg Blume
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen