Retrospektive Ingmar Bergman: Durch Schmerzen zur Selbsterkenntnis
Sein Werk überlebte alle Parodien: Die Retrospektive der Berlinale ist Ingmar Bergman, dem vermeintlichen Großmeisters des Feel-bad-Movies gewidmet.
Sich mit den Filmen von Ingmar Bergman zu beschäftigen gilt heute geradezu als Risikounternehmen. Etwas, was man "Jackass"-mäßig am eigenen Leib erproben kann, um hinterher erstaunten Lesern einen Erlebnisbericht abzugeben: "Wie ich den ganzen Bergman in zehn Tagen überstand."
Vom einstigen Titan des europäischen Autorenkinos, vom "großen Schweden" scheint kaum mehr als der Ruf eines "Großmeisters des Feel-bad-Movies" geblieben. Ein mehr als ungerechtes Etikett, erweist sich bei näherem Hinschauen doch das glatte Gegenteil, nämlich dass Bergmans Filme bis heute eine bevorzugte Quelle des Amüsements sind - kein Regisseur ist häufiger parodiert worden. Mit der schönen, ironischen Folge, dass der jüngere Durchschnittszuschauer vielleicht kaum mehr einen Bergman-Film im Original kennt, mit den Grundzügen seines Werks aber durch Parodien von Woody Allen über die Muppets bis zum Youtube-Video bestens vertraut ist.
Einen Film wie "Wilde Erdbeeren" oder "Das siebte Siegel" zum ersten Mal zu sehen gleicht der Erfahrung, Goethes "Faust" zum ersten Mal zu lesen und mit Ausdrücken wie "des Pudels Kern" und "zwei Seelen, ach, in meiner Brust" zu entdecken, dass gefühlte 80 Prozent deutscher Sprachbilder daraus stammen. In Bergmans Fall sind das Filmbilder wie jenes mit den zwei Frauengesichtern, das eine en face und das andere im Profil, oder der alte Mann, geplagt von Träumen und Erinnerungen auf seinem Weg zum Tod, oder gar der Tod selbst, in Gestalt eines Bleichgesichts mit schwarzem Kapuzenumhang, der sich nach Aufforderung doch tatsächlich ans Schachbrett setzt und die Wahl der Farbe mit "Schwarz? Das passt" kommentiert. Womit im Übrigen bewiesen wäre: Auch Bergman selbst hatte Humor.
In einer perfekten Festival-Welt würde die ihm gewidmete Retrospektive deshalb Werke einschließen wie den Muppets-Clip "Silent Strawberries" (Regie: Gummo Bergman), Woody Allens Version des Totentanzes aus "Love and Death" oder die sorgfältig gearbeiteten Pastiches "The Dove" von George Coe und Anthony Lover und "Bergman Days" des britischen Comedy-Duos French and Saunders ("Make us a symbolic cup of tea, will ya?"). Nicht zuletzt, um zu zeigen, dass Bergmans Filme diesen Humor völlig unbeschadet überleben.
Trotzdem kann eine Beschäftigung mit Ingmar Bergman kein reines Vergnügen sein. Nicht nur deshalb, weil der Regisseur selbst einige Jahre vor seinem Tod noch hat verlauten lassen, er schaue die eigenen Filme nicht mehr an, sie deprimierten ihn zu sehr. Dem Betrachter eines Bergman-Films droht Niedergeschlagenheit noch von ganz anderer Seite: In Form von Trauer um eine Epoche, in der Bergman-Werke wie "Von Angesicht zu Angesicht" und "Herbstsonate" als eher minderwertig eingestuft wurden, weil man andere seiner Filme wie "Persona" oder "Schreie und Flüstern" als Maßstab setzte.
Es ist wohl einfach so, dass eine Bergman-Retrospektive fast reflexhaft zum Kulturpessimismus verführt: Solche Filme werden heute nicht mehr gemacht. Dieses "solche" umfasst verschiedene Aspekte. Als Erstes wäre da die große Ernsthaftigkeit, die das Bergmansche Oeuvre eben ausmacht. Zwar hat Bergman auch Komödien gedreht, zu seinem Markenzeichen aber sind die Psychodramen, die "Innerlichkeitsfilme" geworden, in denen Themen wie Todesangst, Wahnsinn, Elternhass, Gefühlskälte und Gottes Existenz oder Abwesenheit abgehandelt werden.
Deshalb mag es zunächst paradox anmuten, dass ein versierter Komiker wie Woody Allen sich immer wieder als Bergman-Verehrer geoutet hat. Aber seine Parodien konnten die existentielle Dimension der Bergmanschen Vorlagen eben erst recht zu Bewusstsein bringen. Was Bergman in seinen Filmen ausleuchtet, ist oft nicht gerade einfach zu bewältigen. Ein bisschen Allenscher Humor kann da nur helfen.
Bergman hat gewiss keine Unterhaltungsstoffe verfilmt. In "Schreie und Flüstern" stirbt Harriet Andersson einen qualvollen Krebstod, man sieht sie sich vor Schmerzen winden, nach Atem röchelnd. Ihre zwei Schwestern sind unfähig, ihr Zuwendung zu spenden, einzig bei der Bediensteten Anna, die selbst ein Kind verloren hat, findet die Sterbende momentweise Trost. In "Von Angesicht zu Angesicht" erleidet Liv Ullmann einen langsamen, aber unausweichlichen psychischen Zusammenbruch. In "Persona" bildet Ullmanns Verstummen den Ausgangspunkt einer im wahrsten Sinne des Wortes "unheimlichen" Übertragung von Patientin auf Bibi Anderssons plaudernder Krankenschwester.
Was in dieser Aufzählung auch auffällt, ist, wie häufig erwachsene Frauen bei Bergmann die Hauptrollen ausfüllen - und wie rar das im heutigen Kino geworden ist. Doch nicht allein die Thematisierung von Leid war das Besondere an Bergman, sondern vor allem auch, dass er der Versuchung widerstand, die Konflikte durch Autorenallmacht zu lösen. Immer wieder geht es in seinen Filmen um das Ausloten unglücklicher Lebensentwürfe. Im Unterschied aber zum Hollywood-Kino gibt es keine wundersamen Begegnungen, keinen "neuen Mann", keine "neue Frau". Bergmans Filme reißen Wunden auf, bei ihm nehmen die Dinge keine Wendung zum Guten; sie werden einfach anders.
"Das Einzige, das ich durch das Altern hinzugewonnen habe, ist Erfahrung", sagt die von Liv Ullmann gespielte Figur der Marianne in "Szenen einer Ehe". Auch in diesem, dem wohl bekanntesten Bergman-Film, wird nach der Trennung des einst doch so zufriedenen Paares nichts mehr "gut". Und trotzdem steht am Ende nicht die absolute Depression, sondern jene Mischung aus Bedauern und Akzeptanz, die im realen Leben das einzig zu verwirklichende Happyend darstellt.
Im Vergleich zum kunstvollen Bildaufbau in "Persona" oder dem ausgesuchten Spiel mit den Farben in "Schreie und Flüstern" erscheinen die "Szenen einer Ehe" von bestechender Schlichtheit. Close-up reiht sich an Close-up, Dialog an Dialog. Gleichzeitig aber geht von der Klarheit und Präzision der Einstellungen eine hypnotische Wirkung aus. Wo sich keine extravaganten Kompositionen und keine inszenierten Symbole ausmachen lassen, wird Bergmans Kunst zu einer unsichtbaren Autorität, die hintergründig Einfluss nimmt. Sie bezieht ihre Kraft aus dem Mut, die Augen vor den dunklen Seiten nicht zu verschließen und Ambivalenzen auszuhalten.
In "Szenen einer Ehe" gibt es keine Aufteilung in Gut und Böse, Opfer und Täter, wahre oder falsche Liebe, noch nicht einmal in ein glückliches Vorher und unseliges Nachher. Abseits der gängigen Versatzstücke des Liebesdiskurses gelingt Bergman dafür eine so nüchterne wie erhellende Erkundung dessen, was Menschen lebenslang miteinander verbindet.
"Fanny und Alexander" war Bergmans letzter Film, der regulär ins Kino gebracht wurde. Er holt auch den Bergman-skeptischen Zuschauer mit seiner üppigen Eingangssequenz ab. Jenes sinnenfreudige Weihnachten in einer Großfamilie, das zu Beginn gefeiert wird, ist ein gesamteuropäisches Ideal, ein ewiger Kindheitstraum. Für die beiden Titelhelden, den 10-jährigen Alexander und seine etwas jüngere Schwester markiert die Feier das Paradies, aus dem sie sich durch den Tod des Vaters bald vertrieben sehen.
Ihre Mutter heiratet den Bischof, und mit dem Umzug ändert der Film radikal Farb- und Tonlage. Es wird grau und düster, man ist im typisch "Bergmanesken" angekommen. In der Gegenüberstellung aber zeigt der Regisseur, wie eng diese beiden Welten zusammenhängen, das bunte Reich der Kindheit und das graue des Erwachsenwerdens - und dass die Depression nun mal zum Leben gehört. All jenen, die vor dem "Großmeister des Feel-bad-Movies" warnen, sei entgegengehalten: Bei Bergman ist man wenigstens vor einem sicher - man wird nicht mit Kitsch getröstet. Und in dieser Ehrlichkeit, in diesem Mut zum Hinschauen liegt etwas entschieden Antidepressives.
Flankierend zur Retrospektive der Berlinale zeigt das Berliner Museum für Film und Fernsehen die Schau "Ingmar Bergman - Von Lüge und Wahrheit" (noch bis 29. 5. 2011), und im Berliner Bertz + Fischer Verlag ist der Katalog "Ingmar Bergman" erschienen, hrsg. v. Gabriele Jatho, 248 Seiten, zahlr. Abb., 22,90 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin