Residenzpflicht: Verbotener Bildungshunger
Ein Iraner lebt als geduldeter Flüchtling in Brandenburg. Aus eigenem Antrieb hat er einen Schulabschluss an einer Berliner Volkshochschule gemacht - vorbildlich eigentlich. Jetzt soll er dafür bezahlen.
"Strafe muss sein", sagt Walid Rezaei*. "Sie muss sein, wenn man etwas verbrochen hat. Aber ich habe nichts verbrochen." Der 27-jährige Iraner aus Hennigsdorf, einem Brandenburger Ort an der Stadtgrenze zu Tegel, wirkt preußisch korrekt, wenn er das sagt. Sein Ellenbogen liegt auf dem Ordner mit seiner Behördenkorrespondenz. In der Hand hält er das jüngste Schreiben. Der Brief stammt von der Staatsanwaltschaft Neuruppin. Darin wird Rezaei mitgeteilt, dass man bereit sei, von einem Strafverfahren gegen ihn abzusehen - wenn er eine Geldbuße von 90 Euro zahlt.
Die Straftat, die dem Iraner vorgeworfen wird, ist eigentlich keine - er hat die Schule besucht. Das Problem: Die Schule lag nicht in Hennigsdorf, sondern in Berlin. Um sie zu besuchen, hat Rezaei ein Jahr lang täglich gegen die sogenannte Residenzpflicht für geduldete Flüchtlinge verstoßen. Sie schreibt vor, dass ein Flüchtling seinen Landkreis nicht verlassen darf. Besonders problematisch ist das im Berliner Umland: Viele Migranten haben in der Großstadt Freunde, Verwandte oder Institutionen, die sie besuchen wollen - was sie aber nicht so einfach dürfen.
"Jedes Mal, wenn ich einen Polizisten sah, hatte ich Angst", sagt Walid Rezaei, ein orientalisch aussehender Mann. Schwarzfahren kam für ihn nicht infrage. Wenn ein Kontrolleur kam, schlug das Herz doch schneller: "Ich fragte mich dann: Habe ich die Monatskarte wirklich eingesteckt?" Den größten Schreck bekam er, als ihm in Berlin eine für ihn zuständige Mitarbeiterin der Oranienburger Ausländerbehörde über den Weg lief. "Aber die Frau bemerkte mich gar nicht."
Preußisch korrekt hatte Rezaei auch die Genehmigung zum Besuch der Albert-Einstein-Volkshochschule in Tempelhof-Schöneberg beantragt. Ebenso preußisch wurde sie abgelehnt. "Es gab keine Notwendigkeit", sagt Irina Schmidt, Sprecherin des Landratsamts. "Wir haben ihn auf die Möglichkeit hingewiesen, die Volkshochschule in Oranienburg zu besuchen."
Das wäre aber eine schlechte Wahl gewesen. Laut Kay Wendel vom Flüchtlingsrat Brandenburg finden die Schulkurse dort in den Abendstunden statt, und der Weg von Oranienburg nach Hennigsdorf sei abends für Menschen nichtdeutscher Herkunft nicht ungefährlich. Zudem seien die Kurse auf Menschen zugeschnitten, die am deutschen Schulsystem gescheitert sind - und nicht auf bildungsorientierte Menschen wie Rezaei.
Bevor der den Iran aus politischen Gründen verließ, hatte er ein mathematisch orientiertes Abitur abgelegt. Das wiederum wird in Deutschland nicht anerkannt. So entschied sich Rezaei, einen erweiterten Hauptschulabschluss zu machen. Einen, bei dem er in Mathematik und Naturwissenschaften nur Prüfungen abzulegen brauchte, weil er das Wissen längst hat, und für den er hauptsächlich Deutsch und Englisch lernte. "Ich bin nicht nach Deutschland gekommen, um hier dem Staat auf der Tasche zu liegen", sagt er. "Ich will beruflich auf eigenen Beinen stehen. Und darum habe ich mir selbst Angebote gesucht, die zum Erfolg führen." Über so viel Eigeninitiative und protestantisches Arbeitsethos hätte sich die Ausländerbehörde eigentlich freuen können.
Rezaei hat in Hennigsdorf eine Familie. Seine Mutter, die sich im Iran frauenpolitisch engagierte und deshalb das Land verlassen musste, lebt hier mit seinem Stiefvater, mit seinem jüngeren Bruder teilt er sich eine Wohnung. Der Bruder hat in Hennigsdorf eine normale Schule besucht. Walid Rezaei selbst war bei der Einreise nach Deutschland schon volljährig, er fiel nicht mehr unter die Schulpflicht und bekam auch kein politisches Asyl. Die Familie konnte nur die Verfolgung der Mutter durch das Teheraner Regime nachweisen, nicht die der Söhne.
So hat Walid Rezaei vor wenigen Wochen bei der Härtefallkommission des Landes Brandenburg ein humanitäres Bleiberecht beantragt. Er hat es bekommen, weil er einen ganzen Aktenordner voll Dokumente über seine hervorragende Integration vorlegen konnte: die familiäre Bindung. DasSchulzeugnis. Nachweise über sein ehrenamtliches Engagement: Rezaei beteiligt sich an einer Umweltgruppe, die regelmäßig den Flughafensee in Tegel säubert. Außerdem engagiert er sich in der Flüchtlingsorganisation "Jugendliche ohne Grenzen", zu deren Brandenburger Landessprecher er gewählt wurde.
Ausgerechnet diese Dokumente wurden ihm jetzt zum Verhängnis: Die Ausländerbehörde erfuhr durch sie, dass er trotz Behördenverbot die Schule in Berlin besucht hatte. Preußisch akkurat recherchierte sie, dass der Iraner täglich in der Schule war und keinen einzigen Fehltag hatte. "Wenn wir wissen, dass jemand massiv, wissentlich und über einen längeren Zeitraum Straftaten begangen hat, können wir darüber nicht hinwegsehen", begründet Behördensprecherin Irina Schmidt die im Februar gestellte Anzeige.
Die rot-roten Landesregierungen in Berlin und Brandenburg wollen eigentlich die Residenzpflicht für Flüchtlinge abschaffen. Doch dieser Plan ist offenbar aus juristischen Gründen nicht so schnell umzusetzen wie gewünscht. So werden weiterhin Flüchtlinge mit der absurden Regelung schikaniert. Kay Wendel vom Brandenburger Flüchtlingsrat kennt Fälle aus den letzten Wochen, in denen die Oranienburger Ausländerbehörde Urlaubsscheine nach Berlin verweigerte, mit denen Flüchtlinge zur Psychotherapie im Behandlungszentrum für Folteropfer fahren wollten. In Brandenburg gibt es kein solches Angebot. Wendel erzählt vom Fall eines Syrers, dem ebenfalls in diesem Jahr die Erlaubnis verwehrt wurde, seinen Vater in Berlin zu besuchen. Begründung: Der Vater könne doch umgekehrt zu ihm kommen. Ein Vietnamese aus Rathenow wiederum musste sich im Dezember bis zum Oberverwaltungsgericht klagen, um sein Baby und dessen Mutter in Berlin besuchen zu dürfen.
Potsdam arbeitet seit Monaten an einer Weisung an die Ausländerbehörden, solch preußische Prinzipienreiterei zu unterbinden. Bisher gibt es sie aber nicht. "Letztlich muss natürlich das Bundesrecht geändert werden", sagt Kay Wendel. "Das Brutale daran ist ja, dass dieses Gesetz der Willkür von Mitarbeitern der Ausländerbehörden Tür und Tor öffnet, Flüchtlinge zu schikanieren. Und solche Mitarbeiter gibt es leider mancherorts."
Ob Walid Rezaei die Geldbuße zahlt, hat er noch nicht entschieden. Er will es mit einer Anwältin beraten. "Ich will kämpfen. Dabei geht es mir nicht um das Geld. Ich will, dass der Druck weg ist, der mit der Residenzpflicht auf den Flüchtlingen lastet."
* Name geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt