Reportageroman „The Corner“: Zwei Weiße mit Notizblöcken

„The Corner“ von David Simon und Ed Burns beleuchtet die Verelendung eines Viertels in Baltimore anhand einer Familiensaga. Spannenderes gibt es zur Zeit kaum.

In den Straßen von Baltimore – wo der War on Drugs nicht ganz so erfolgreich ist: Szene aus „The Wire“. Bild: HBO

Was für eine Recherche! „Wir gingen zur Ecke Monroe/Fayette und blieben ein Jahr.“ Die Rede ist von einer Straßenecke in West-Baltimore, der größten Stadt Marylands, einem der Schauplätze des US-amerikanischen War on Drugs. Und wer sich traute, tagein, tagaus dort herumzulungern, mitten unter schwarzen Drogenabhängigen und Dealern, waren zwei „Weiße mit Notizblöcken“, wie sie sich selbst nennen: David Simon und Ed Burns.

Heute sind die beiden preisgekrönte Autoren und Macher der HBO-Serie „The Wire“. Damals, 1993, waren sie aber noch weitgehend unbekannt, der eine ein von der Redaktionshetze genervter Lokaljournalist, der andere hatte gerade erst seine Polizeimarke abgegeben.

Simon hat zuvor mit ähnlicher Methode, indem er lange Zeit eine Schicht des Morddezernats in Baltimore begleitete, das Buch „Homicide – Ein Jahr auf mörderischen Straßen“ geschrieben. Der 800 Seiten starke Reportageroman „The Corner“, nun stärker gefärbt von Sprache und Ansichten der Bevölkerung, verfasst zusammen mit Ed Burns und als Miniserie ebenfalls verfilmt, lässt sich ein Jahr nach der deutschen Fassung von „Homicide“ endlich auch in deutscher Übersetzung lesen.

Im Mittelpunkt der zentrifugalen Erzählung stehen die schwarzen Familien Boyd und McCullough, deren Mitglieder inklusive aller angeheirateten oder mit einem von ihnen liierten Personen sämtlich den Weg aus erklecklichem Wohlstand ins tiefste Elend schwerer Drogenabhängigkeit genommen haben, mit Ausnahme der Großeltern.

Der mehrfache Wechsel der Erzählperspektive bezieht auch die Cops des Viertels ein: „Wie kann ich mit meiner Polizeiarbeit etwas erreichen, wenn mehr als die Hälfte der Fayette Street und vielleicht 80 Prozent der Anwohner zwischen 15 und 30 auf irgendeine Weise in den Verkauf oder Konsum von Heroin oder Kokain verwickelt ist?“

„The Corner“ ist zugleich eine Familiensaga vom Schlage von „Roots“ und soziologische Bestandsaufnahme einer schwarzen Community nach dem Zusammenbruch der amerikanischen Industrieproduktion.

Ende des Empire

Die Autoren betreiben aber auch eine Anthropologie der amerikanischen Stadt in ihrer Gesamtheit, wie sie sich nach dem Ende des American Empire organisiert. „Bericht aus dem dunklen Herzen der amerikanischen Stadt“ lautet der Untertitel des Buchs. In zwischen die Familienerzählung geschobenen essayistischen Einlassungen sparen die Autoren nicht mit Kritik an der Dysfunktionalität des War on Drugs.

Sie deuten ihn als „Krieg gegen die sozial Benachteiligten in ihrer Gesamtheit“, gegen „die Verdammten unserer Städte“. Einen Krieg, der zugleich sein Ziel, die Vereitelung aller im Zusammenhang mit Sucht stehenden Verbrechen, notwendig und gründlich verfehlt, weil er seine Ursache, nämlich die Perspektivlosigkeit der betreffenden Bevölkerungsschicht, nicht bekämpft.

Der Roman ist aber auch voll von Geschichten individueller Kämpfe gegen diese Perspektivlosigkeit. Immer wieder versuchen Einzelne unter großem Aufwand, am Ende meist vergeblich, sich ihr zu entwinden. Um die Kinder und jüngeren Jugendlichen bemüht sich Ella Thompson, die Leiterin eines Jugendzentrums. Auch ihre Geschichte und ihre Motive werden im Buch ausführlicher literarisch ausgelotet. Das Buch gibt Zeugnis von der beinahe vollständigen Barbarisierung einer Gemeinde infolge ihrer Verelendung, in einem Ausmaß, für das an einer Stelle auf Elie Wiesels Auschwitz-Bericht „Nacht“ angespielt wird.

Rauschen im Blätterwald

Auf dem Prüfstand steht aber auch die journalistische Recherche: „Vieles von dem, was im Journalismus als intime Kenntnis der Verhältnisse durchgeht, ist nicht mehr als Dreistigkeit oder im schlimmsten Fall plumpe Täuschung.“ In Deutschland schlugen erst im Mai die Wellen hoch, als sich zwei Redakteure der Süddeutschen Zeitung weigerten, bei der Verleihung des Henri-Nannen-Preises zusammen mit jenen Kollegen von der Bild geehrt zu werden, die Christian Wulff zu Fall gebracht haben. Skandal, Skandal, Rauschen im Blätterwald, Ende.

Was ist, wie entsteht eine gute Reportage? Im deutschsprachigen Raum „The Corner“ am ähnlichsten kommt vielleicht „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ von den Stern-Reportern Kai Hermann und Horst Rieck. In den USA, wo weniger Gewese um Gattungsfragen gemacht wird, lassen sich leichter Texte finden, die für die Darstellung von Fakten eine spannende Form finden, Truman Capote oder Norman Mailer sind da nur die Flaggschiffe.

Heute zählt auch der Krimiautor George Pelecanos, der zwischenzeitlich ebenfalls für „The Wire“ schrieb, zu denjenigen, die der Gewaltförmigkeit der Verhältnisse derart mit Literatur auf den Zahn fühlen.

Simon und Burns schließen ihre Studie nicht völlig pessimistisch: „Dies ist das Amerika, das wir errichtet, für das wir bezahlt und das wir deshalb verdient haben. Vielleicht ist es möglich, etwas mehr zu zahlen für etwas, das besser ist.“

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