Rentenreform: Die soziale Rentenkluft
Die Ärmeren arbeiten körperlich härter und sterben früher. Sie schaffen es schon jetzt kaum bis zum offiziellen Renteneintrittsalter.
M an muss kein Volkswirt sein, um die Schieflage zu erkennen, die entsteht, wenn Menschen länger leben und gleichzeitig weniger Kinder bekommen. Immer weniger Arbeitnehmer zahlen die Rente für immer mehr Rentner. Bei mehr als 115 Milliarden Euro Zuschuss für die Rentenkasse – immerhin ein Viertel des Bundeshaushalts – müssen Reformen der Rente als mögliche Sparmaßnahme zur Bekämpfung der immer weiter klaffenden Haushaltslöcher mitdiskutiert werden.
Die naheliegende Lösung: eine Anpassung des Renteneintrittsalters. Ist es angesichts des finanziellen Drucks nicht einleuchtend – vielleicht sogar fair – wenn der „Arbeitsanteil am Leben“ konstant gehalten wird? Auch die Junge Union sieht mit ihrer aktuellen Revolte hier eine Chance, die Rente im Sinne der Generationengerechtigkeit zu retten.
Wagt man jedoch den Exkurs in die Statistik, drängt sich der Eindruck auf, dass dieser Vorschlag Generationengerechtigkeit auf Kosten sozialer Gerechtigkeit erkauft. Denn die Forderung nach einer Anpassung des Renteneintrittsalters blendet entscheidende Details aus: Wir altern nicht alle gleich und werden auch nicht alle gleichermaßen älter. Langlebigkeit ist in Deutschland ungleich verteilt – entlang von Bildung, Einkommen, Beruf und Wohnort.
Wer besser lebt, lebt länger, weniger Privilegierte sterben früher. So können sich die sozial Stärksten bei einem Renteneintritt mit 70 über durchschnittlich 18 Jahre Ruhestand freuen. Die sozial Schwächsten hingegen können nur mit etwa 10 Jahren rechnen.
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Überproportional viele Arme erreichen das Rentenalter nicht
Gleichzeitig stagniert die Lebenserwartung der Ärmsten nicht nur, sie ist in den vergangenen Jahren sogar gefallen. Entsprechend weitet sich die soziale Kluft des Alterns immer mehr aus: Lag 2003 der Unterschied in der Lebenserwartung bei Männern zwischen den Privilegiertesten und den am wenigsten Privilegierten noch bei 5,7 Jahren, waren es 2020 schon 7,2 Jahre. Dieser Trend wird sich mit der zunehmend weiter auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich und privatisierten Gesundheitstrends wie dem Longevity-Hype in den nächsten Jahren vermutlich nur verschlimmern.
Zu allem Übel kommt hinzu: Selbst die mittlere Lebenserwartung der Subgruppen vereinfacht noch zu stark und spiegelt nicht das ganze Ausmaß der Ungerechtigkeit wider. Denn die Lebenserwartung sozial besser gestellter Menschen weicht in der Regel nicht weit vom Durchschnitt ihrer Gruppe ab. Statistiker sprechen von einer „geringen Standardabweichung“.
Dagegen kommt es unter weniger gut situierten Bürgern häufig vor, dass sie deutlich jünger sterben, als es ihre Lebenserwartung vorhergesagt hätte (große Standardabweichung). So ist die Unsicherheit, wann man verstirbt, unter weniger Privilegierten deutlich höher und die Rentenzeit damit weniger planbar als bei privilegierteren Bürgern.
Diese mathematischen Übungen wirken abstrakt. In der Realität bedeuten sie aber, dass unter der niedrigsten Einkommensgruppe jetzt schon fast doppelt so viele Menschen verfrüht versterben (also vor dem 65. Lebensjahr) wie unter denjenigen mit den höchsten Einkommen (bei Männern 27 Prozent gegenüber 14 Prozent, bei Frauen 13 Prozent gegenüber 8 Prozent).
Je weniger Einkommen, desto seltener private Vorsorge
Eine Anhebung des Renteneintrittsalters würde die sozial Schwächsten entsprechend deutlich härter treffen als die sozial Stärksten der Gesellschaft. Überproportional viele Menschen dieser Gruppe werden die Rente nie erreichen oder einen unverhältnismäßig großen Teil ihrer potenziellen Rentenzeit verlieren.
Hinzu kommt, dass die Abhängigkeit von der Rente entlang des gleichen Gefälles verteilt ist: Knapp 55 Prozent der weniger Privilegierten sind voll auf die Rente angewiesen und haben keine andere Altersvorsorge. Dagegen haben mehr als 80 Prozent der sozial Stärkeren noch eine zusätzliche Altersvorsorge.
Eine Anhebung des Renteneinstiegsalters wirkt regressiv, sie belastet die Armen mehr als die Reichen. Durch eine Anhebung des Renteneintrittsalters würde zudem eine Gruppe besonders hart getroffen, die unter den sozial Schwächeren überproportional vertreten ist: Menschen, die körperlich schwere Arbeit leisten. Wer Jahrzehnte in der Pflege, auf dem Bau oder in anderen körperlich belastenden Berufen gearbeitet hat, kann irgendwann schlicht nicht mehr – und entscheidet sich oft trotz des hohen Risikos von Altersarmut für die Frührente.
Diese Besonderheit könnte Ursache eines paradox wirkenden Trends sein: Unter den ärmeren Bevölkerungsgruppen ist der Anteil derjenigen, die vorzeitig in den Ruhestand gehen, deutlich höher. Andererseits ist diese Realität vielleicht auch ein Spiegel der bitteren Realität der Altersungerechtigkeit. Da wir zunehmend in unserer Bubble verkehren, erleben ärmere Menschen häufiger, wie Verwandte und Bekannte verfrüht sterben und dass ein ausgedehnter Ruhestand selten ist. Die Vorstellung, bis 67 oder gar 70 zu arbeiten, wirkt folglich nicht wie ein langfristiger Plan, sondern wie ein riskantes Glücksspiel.
De facto droht eine deutliche Rentenkürzung für Ärmere
Wer über die Reform der Rente diskutiert, sollte diese Unterschiede deshalb mitdenken. Das Anheben des Renteneintrittsalters kann eine ungewollte Umverteilung von Arm auf Reich zur Folge haben. Denn all jene, die einen gut bezahlten Bürojob haben und bis zum Schluss arbeiten können, bekommen eine 100-Prozent-Rente für einen höchstwahrscheinlich ausgedehnten Ruhestand.
Wer jedoch seit seinem 16. Lebensjahr beispielsweise in der Altenpflege, im Handwerk oder in der Produktion arbeitet, schafft es in sehr vielen Fällen nicht ohne Abschläge in die Rente, kann sie weniger Jahre genießen oder erlebt den Ruhestand vielleicht nie.
Was auf dem Papier als reiner Inflationsausgleich des Älterwerdens erscheint, bedeutet in der Lebenswirklichkeit für viele Menschen eine faktische Kürzung ihrer ohnehin knappen finanziellen Mittel und ihrer Lebenszeit im Ruhestand.
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