Rentenalter: "So einfach ist die Welt nicht mehr"
Das Konzept der Rente ab 67 ist Theorie. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Eine Reportage über ausgepowerte Fließbandarbeiter und arbeitswillige 70-Jährige.
GIFHORN taz Die Beine übereinandergeschlagen, sitzt Otto Lange aufrecht im Sessel. Der blaue Hemdkragen und die Krawatte umschließen fest seinen Hals, mit sparsamer Gestik führt er ab und an seine Hände zusammen. Er halte nichts von dieser Sache, sagt er, gar nichts. Davon, dass alle arbeiten sollen, bis sie 67 Jahre alt sind. Das sei doch eine banale Methode: "Aus 65 wird 67? So einfach ist die Welt nicht mehr."
Arbeitsbiografien verlaufen nun mal in den seltensten Fällen linear. Da ist die Frau, die auf ihre Mutterrolle gesetzt hat und nach der Scheidung einen Job suchen muss. Da beugen sich Angestellte so lange dem Leistungsdruck, bis mit 45 Jahren Körper und Seele streiken. Es gibt Frauen wie die Fließbandarbeiterin Barbara Schweitzer*, die lieber heute als morgen in Rente ginge, und Männer wie den Forstverwalter Wilfried Diers, der mit siebzig Jahren nicht im Traum ans Aufhören denkt.
Otto Lange kennt sie gut, die Arbeitswelt. Bevor ihn seine Bischöfin vor sechs Jahren von seinem Amt entpflichtet hat, war der heute 69-Jährige Landessozialpfarrer bei der Niedersächsischen Landeskirche, also eine Art kirchlicher Gewerkschafts- und Sozialarbeiter, der in Firmen und Fabriken ging, um sich der Menschen und ihrer Probleme am Arbeitsplatz anzunehmen. Das Thema interessiert ihn bis heute. Auch, weil er an einem Gutachten zur Rente mit 67 mitgeschrieben hat, das die Bezirksleitung der IG Metall Niedersachsen und Sachsen-Anhalt in Auftrag gegeben hatte. Die Politik hat das Thema vor drei Monaten abgehakt, sie hat beschlossen, dass ab 2012 alle länger arbeiten müssen. Aber Otto Lange bleibt dran.
Barbara Schweitzer hat noch ein paar Stunden Zeit, ehe sie zur Schicht muss. Vielleicht wird sie heute noch ein wenig vorschlafen, damit die Nacht nicht so anstrengend wird. Die 40-Jährige arbeitet, ebenso wie ihr Mann, bei Volkswagen am Band. Sechs Wochen lang im Wechsel Früh- und Spätschicht, dann folgen drei Wochen Nachtschicht, und das seit 17 Jahren. Die gelernte Köchin steht am Band, sie schraubt Scharniere, Kotflügel, Heckklappen, Türen und Fronthauben an den Karosserierohbau. Die Teile hängen zum Glück an Einbauvorrichtungen, doch ohne Körperkraft geht es nicht, sagt sie. "Die Kotflügel werden von innen angeschraubt, da muss man sich bücken und verbiegen." Wenn sie morgens wieder nach Hause kommt, kann es sein, dass ihr Mann schon zur Frühschicht los ist, die familiäre Kommunikation reduziert sich dann auf Zettel und Anrufbeantworter.
Körperlich kaputt fühlt sie sich. "Wenn ich nach Hause komme, kann ich nicht mal mehr einen zusammenhängenden Satz sagen", erzählt sie in ihrer gemütlichen Küche mit den blau-gelb gestreiften Tapeten. Hier, in dem Dorf zwischen Wolfsburg und Gifhorn, wohnt sie seit 1998 im eigenen Haus mit ihrem Mann und dem 14-jährigen Sohn. Für dieses Leben tut sie das alles.
Besonders unter der Monotonie ihrer Tätigkeit leidet Barbara Schweitzer. Deshalb nimmt sie ihren MP3-Player mit ins Werk - und ihre Träume. Freut sich auf den Feierabend, auf den Garten, auf ihren anschmiegsamen Windhund. "Ich muss mich auf etwas freuen", sagt sie, "sonst habe ich immer diese hässlichen grauen Autos vor mir." Kann sie sich vorstellen, bis 67 so zu arbeiten? Nein. Schweitzer versteht diese ganze Diskussion nicht. "Wie soll das gehen bei 3,7 Millionen Arbeitslosen?" Die schlanke Frau mit den kurzen schwarzen Haaren wünscht sich einen abwechslungsreicheren Job, und zwar nicht erst, wenn ihre jetzige Arbeit Spuren hinterlassen hat. "Ich setze meinen Körper und meine Gesundheit ein, damit ich nachher wenigstens ein paar Jahre meines Lebens bei guter Gesundheit verbringen kann", sagt sie. Ein paar Jahre Genuss, mehr nicht.
Die Verständnislosigkeit dafür, noch länger arbeiten zu sollen, wundert Otto Lange nicht. Vor zwanzig Jahren, erklärt er, mussten die Menschen einen regelrechten Kulturschock verkraften, als 55-Jährige gezwungen wurden, aus dem Berufsleben auszusteigen. Viele hätten sich damals nicht mehr vor die Haustür gewagt, so groß war ihre Scham und noch so wenig ausgeprägt die Unbekümmertheit, mit der heutige Frührentner mit originellen Freizeitbeschäftigungen ihr Dasein ausfüllen.
Und nach dieser kolossalen Kehrtwende soll es auf einmal heißen: Kommando zurück? Trotz weiter hoher Arbeitslosenzahlen? "Das sitzt tief in den Köpfen der Menschen", meint Otto Lange. Mehr noch, ihre Lebenserfahrung sage ihnen, dass die Produktivität durch Technologisierung weiter steigen und die Arbeit mit immer weniger Personal zu bewältigen sein wird. "Man kann nicht isoliert sagen, so, jetzt erhöhen wir das Rentenalter und das als große sozialpolitische Tat verkaufen."
Wilfried Diers lebt schon heute vor, was bald Alltag werden soll. Grüner Parka, derbe Schnürschuhe, olivfarbene Arbeitshosen, die weißen Haare mit einer Kappe bedeckt - seine Arbeitskluft, die er gegen einen feineren waidmännischen Zwirn tauscht, wenn er im Chor singt oder zur Jagdversammlung geht, kleidet ihn wie eine zweite Haut. So sieht Freiheit aus. Der Mann wird in diesem Jahr 70, seit über 30 Jahren arbeitet er als Verwalter eines Forsthofes nahe Gifhorn. Er will bleiben, bis er umfällt.
Schon die Vorstellung, er müsste zu Hause seine Tage mit Müßiggang verbringen, bereitet Diers sichtlich Unbehagen. Seine Bekannten, erzählt er, begegnen ihm mit Unverständnis. Du bist doch blöd, dass du das noch machst - diesen Satz bekommt er immer wieder zu hören. An Wilfried Diers prallt das ab. Es geht nicht ums Geld, das er zur Rente dazuverdient, es geht um die persönliche Befriedigung, auch mit siebzig ein gefragter Experte zu sein, wenn es heißt, Bäume zu fällen oder die Heidelbeersträucher zum richtigen Zeitpunkt abzuernten. Es ist sein Erfahrungsschatz, den er sich im Laufe der Jahrzehnte angeeignet hat, und es ist ihm Genugtuung, auch mit den Angestellten den richtigen Ton zu treffen: "Super Chef" steht auf dem Blechschild, das die studentischen Heidelbeerpflückerinnen aus Polen ihm mal geschenkt haben. Diers bleibt.
Für Friederike Magirus hat die Rente mit 67 in ihrer Vorstellung eine blasse Kontur. Die 40-jährige Sozialpädagogin ist froh, endlich wieder eine Stelle zu haben. Sie muss sich ihren Rentenanspruch erst einmal erarbeiten. Fünf Jahre hat sie nach ihrem Studium gearbeitet, bis Sohn Friedrich zur Welt kam. Als er zwei wurde, zog die Familie nach Bayern. Einen Kindergartenplatz gab es nicht, an Arbeit war nicht zu denken. Später kam noch Tochter Charlotte dazu, sie ist heute acht. Friederike Magirus blieb daheim und war ganz Mutter, der Ehemann verdiente gut. Irgendwann zog die Familie nach Niedersachsen, der Arbeit hinterher.
Als dort die Beziehung in die Brüche ging, wurde Friederike Magirus die Hausfrauenehe zum Verhängnis. Es dauerte nicht lange und sie und die Kinder waren auf Hartz IV.
Friederike Magirus ist eine sympathische, offene Frau, für die auch gesellschaftliches Engagement zum Lebensplan gehört. Aus Hartz IV hat sie sich schließlich dank ihres Netzwerkes befreit, das sie sich seit ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit im Frauenzentrum aufgebaut hat. Im vergangenen Jahr bekam die Sozialpädagogin eine Teilzeitstelle in einer Jugendfördereinrichtung, befristet auf zwei Jahre. Dort betreut sie Jugendliche, die lernen sollen, für sich einen Weg in die Zukunft zu finden.
"Nach zehn Jahren wieder in den Beruf einsteigen, das war ein total mulmiges Gefühl", erinnert sie sich. Genau dieses Gefühl hat sie heute beim Thema Rente. "Wenn ich daran denke, macht es mir Angst, also denke ich nicht daran." Sie verdient zu wenig, um privat vorsorgen zu können. Altersarmut wird das große Thema, vor allem bei Frauen, da ist sie sich sicher.
Würde sie im Rückblick die Dinge anders angehen? "Ja", sagt sie, "ich hätte den Berufsweg konsequenter für mich verfolgen müssen." Ob sie die Kraft haben wird, auch noch mit 67 den Ansprüchen ihres Berufes gerecht zu werden? Sie runzelt die Stirn. "Alle, die ich kenne, wollen früher aufhören", sagt sie und erzählt von Kollegen, die mit 45 ausgebrannt sind. Sie kann das gut nachfühlen.
Die Tür geht auf, der zwölfjährige Sohn kommt nach Hause. Freut sich, dass auf dem Tisch ein paar süße Stückchen stehen, greift sich ein Donut und kaspert mit Friederikes Lebensgefährten herum. "Sag mal", fragt sie ihn, "findest du das eigentlich gut, dass ich jetzt arbeite?" - "Du arbeitest, wenn ich auch nicht da bin, das finde ich cool. Aber manchmal bist du ganz schön gereizt, wenn du heimkommst", antwortet Friedrich. Die Arbeit, sagt sie nach kurzem Überlegen, müsste einfach auf mehr Menschen verteilt werden. Dann würde auch ihre Qualität besser.
So dächten viele, erklärt Otto Lange: "Lieber früher raus als später." Die Ablehnung der längeren Lebensarbeitszeit sei ein Reflex auf das Gefühl, alles würde sich verändern, und zwar stets zum Schlechteren. Was man dagegen tun könne? "Die Menschen müssen von Anfang an das Signal bekommen, du bist wichtig, es wird ganz viel für dich getan, ganz viel in dich investiert. Weil keiner verloren gehen darf." Die Altersfrage, hofft er, wird in Zukunft zurücktreten, und es wird wieder mehr darum gehen, welche Person mit welcher Qualifikation und Leistungsfähigkeit für welchen Arbeitsplatz geeignet ist. Der Austritt aus dem Arbeitsleben, so stellt er es sich vor, wird ein sehr offenes, flexibles Verfahren sein, menschenfreundlich, sehr individuell - und solidarisch.
Hätte Otto Lange selbst gern bis 67 gearbeitet? Oh ja.
* Name geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen