Religions-Theater: Kompromisslos fundamental

Biblische Themen sind im Theater derzeit en vogue. In Lübeck wird nun Kieślowskis Filmzyklus „Dekalog“ als offener Entscheidungsprozess dramatisiert

Plädiert vergeblich gegen die Todesstrafe: Timo Tank als Anwalt. Foto: Kerstin Schomburg

LÜBECK taz | Aus dem Himmel über Berlin nach Lübeck geflüchtet, auf die Kammerspielbühne. Eifrig helfen sie den Bühnenarbeitern – und beäugen ratlos das Treiben. Dann hockt sich der eine oder andere Engel an der Rampe hin, popelt und schickt diese wissend drohenden Blicke ins Publikum oder zu den Schauspielern. Staunt über die Hilflosigkeit, die ihr Chef mit den Zehn Geboten angerichtet hat – also das, was das Autorenteam der Bibel und ihre Übersetzer mit dem kleinen Regelwerk formuliert haben, um dem Tier Mensch seinen Überlebensweg zu markieren.

Aber vergeblich. Es tröpfelt vom Bühnenhimmel, Gott selbst beweint wohl das Scheitern seiner Erziehung. Vielleicht schmerzen ihn auch die vorgeführten Drangsale moderner Menschen, die moralische Entscheidungen zu treffen haben. Auch als Zuschauer kann man sich kaum dem bohrenden Erzählduktus entziehen, mit dem Krzysztof Kieślowskis „Dekalog“ die verhandelten Fragen zuspitzt und Antworten verweigert. Seine zehn höchst raffiniert konstruierten Filme zu den zehn Geboten wurden zu Geschichten eines dickleibigen Buches, die nun auf den Punkt genau gerafft zur Wertedebatte am Theater Lübeck aufgeführt werden. Schmerzhaft präzise.

Wertedebatte

Wie schon 2014 der Versuch von Dušan David Pařízek am Theater Bremen. Was passiert mit einer jungen Frau, wenn sie erfährt, dass ihr Vater gar nicht ihr leiblicher Vater ist – und ihre Liebe zu ihm nun nicht mehr tabu? Was ist davon zu halten, wenn ein Arzt im Namen Gottes eine Patientin belügt – um ein ungeborenes Kind vor der Abtreibung zu retten?

In Bremen traten die ethisch gratwandernden Hauptfiguren der Episoden stets allein aus dem Publikum auf die leergeräumte, von wirklich jedem Gottkrümel gereinigte Bühne und breiteten ihre Geschichten monologisch aus. Wie live aus einer Therapiesitzung herauskopiert. Für die Zuschauer als mitdenkende, mitleidende Analytiker.

In Lübeck werden die vertrackten Konflikte im Duett dialogisch vorgestellt und etwas verspielter inszeniert. Crescentia Dünßer gönnt jeder Szene ein dezent anderes Format: mal Lesung, mal Hörspiel, komödiantisch überdreht oder psychologisch ausagiert. Aber immer ergebnisoffen, sodass das Publikum die vorgeführten Entscheidungen aus der inneren Wirklichkeit der Figuren in die eigene überführen kann.

Bibel auf der Bühne

Das ist das Schöne an den biblischen Themen, wenn man sie aus dem von drei Religionen verminten Rezeptionsumfeld herauslöst und unverstellt als mythischen Text liest: Kompromisslos fundamental werden menschliche Grundkonflikte verhandelt. Das Theater muss nur noch ihre Dringlichkeit herausarbeiten.

Das gelingt nicht nur mit dem „Dekalog“. Zunehmend flutet Bibel-Personal die Stadttheaterbühnen. In Lübeck stand bereits der von Gott geprüfte Dulder Hiob im Rampenlicht: bestürmt von den Möglichkeiten des Daseins – und gefangen in seinem Schicksal. Und an der immer noch virulenten Frage leidend, warum es all das Leid, die Katastrophen, Krankheiten und den Tod auf Erden gibt. Sind das Beweise der Nichtexistenz Gottes?

Auch Josef ließ sich von seinen Brüdern auf der Lübecker Bühne quälen. Musste er als Lieblingssohn des israelitischen Ahnvaters Jakob doch für seine Selbstgefälligkeit büßen. In der Dramatisierung der Thomas-Mann-Adaption ringt ein Mann mit sich und seiner Bestimmung. In Osnabrück wurde zu Saisonbeginn die Apokalypse vertanzt und in Bremerhaven kürzlich gleich die ganze Genesis aufgeführt.

An der Wesermündung bot man sogar eine Schifffahrt zu den letzen Dingen an: Mit einem für Hochseebestattungen genutzten Kutter ging es hinaus auf die Nordsee, während Sterbeexperten über den Tod nachdachten. Intendant Ulrich Mokrusch wollte aber nicht nur Themen, sondern auch die Kirche im Boot haben – und wurde Mitbegründer der Kultur- in der Pauluskirche.

Showtempel-Kooperation

Bundesweit bieten Theatermacher in Gotteshäusern Konzerte und Lesungen an, zeigen, wie der göttliche Geist im irdischen Tanzkörper sich äußert oder was „Nathan der Weise“ so sagte. In Bremen stehen Theaterpredigten auf dem Spielplan. Die beiden Showtempel der menschlichen Selbstverständigung haben ja auch eine gemeinsame Geschichte. Der Geburt des Theaters aus den kultischen Handlungen der Antike folgte dank Oster- und Krippenspielen die Wiedereingemeindung in die religiöse Praxis. Die Bühnenkunst emanzipierte sich dann aber nach endlosen Reibereien, steht nun exkommuniziert der Kirche gegenüber. Aber nicht feindlich.

Beide seien „die letzten öffentlichen, nicht verzweckt, utilitaristisch, kommerziell genutzten Räume in unseren Städten, in denen man gemeinsam etwas erleben, unbequeme Fragen bequem stellen und dunkle Seiten des Menschen ausleuchten kann“, betont Thomas Bockelmann, der seit 20 Jahren in seinen Intendanzstationen Wilhelmshaven, Münster, Kassel für die Kooperation kämpft.

„Wir wenden gleiche Mittel an“, sagt er, „die christliche Religion nennt es Nächstenliebe, wir nennen es Empathie, die Kunst des sich Anverwandelns.“ So ließen sich gemeinsame Aufgaben angehen: Sinnproduktion, Werte hinterfragen, Entwerfen von Utopien. Um dafür zeitgemäße Beachtung zu finden, scheint es eine frische Lust auf strategische Partnerschaft des aufklärerischen Theaters und der gegenaufklärerischen Kirche zu geben. Die Engel auf der Bühne werden bestimmt noch gebraucht.

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