Religiöse Spannungen in Nigeria: Misstrauen, Schutt und Asche
Die Christen nennen Jos eine Frontstadt. Die wollen uns vertreiben, argwöhnen dagegen Muslime. Wer noch kann, verlässt dieses Pulverfass.
Im Schatten der Akazien, die den Vertriebenen am Rande der Provinzhauptstadt Jos Schutz vor der Sonne bieten, sitzen vermeintliche Todfeinde dicht gedrängt auf dem staubigen Boden. Mehr als zwei Wochen nach den Massakern in der zentralnigerianischen Stadt wissen weder Muslime noch Christen, was sie mit ihrem Leben noch anfangen sollen. Das Blutbad, das vermutlich mehr als 550 Tote und über 14.000 Vertriebene hinterließ, hat alles verändert.
"Ich habe am Morgen zu Hause am Esstisch gesessen, wir hatten schon Ausgangssperre", erinnert sich die Muslimin Aisha Haruna. "Eine Stunde vor Mittag dann hörte ich laute Stimmen an der Hintertür und ein Krachen." Haruna und ihre drei Töchter rannten zur Vordertür hinaus, doch die bewaffneten Jugendlichen, christliche Milizen, verfolgten sie. "Ich dachte wir hätten Glück, als wir auf eine Polizeipatrouille stießen", sagt die Mutter mit schwerer Stimme. Doch als sich Polizisten und Verfolger eine Schießerei liefern, wird eine von ihren Töchtern tödlich getroffen. "Jetzt warte ich nur noch, bis mir jemand den Busfahrschein bezahlt, damit wir zurückkehren können in mein Heimatdorf." In Jos, sagt Haruna, kann sie nicht bleiben.
Wenige Meter neben ihr wartet Ndusibi Oko - worauf, weiß er nicht. Seine Heimat war Bukuru, die Vorstadt, die sich an die Stadt Jos mit ihren mehr als einer halben Million Einwohnern anschließt. "Bis Bukuru waren die Unruhen bisher nie gekommen, deshalb fühlten wir uns sicher", berichtet er stockend.
Jos hat 500.000 Einwohner, ist Hauptstadt des Bundesstaates Plateau und liegt an der Nahtstelle zwischen dem mehrheitlich muslimischen Norden und dem vorwiegend christlichen Süden Nigerias. Obwohl Christen in Plateau die Mehrheit stellen, lebt vor allem in Jos eine große muslimische Minderheit.
Die Unruhen: 2001 erschütterten erste Unruhen die Stadt, mehr als 1.000 Menschen kamen ums Leben. 2002 ging der Markt, größter Umschlagplatz der Region, in Flammen auf. Ende 2008 gab es erneut Ausschreitungen: mehr als 200 Menschen starben. Untersuchungen verliefen im Sand. Am
17. Januar fingen die jüngsten Unruhen an, über den genauen Beginn gibt es verschiedene Versionen. Während das Militär die Stadt nach vier Tagen sichert, finden im Umland weitere Ausschreitungen statt, bei denen Hunderte ums Leben gekommen sein sollen. Offizielle Zahlen gibt es nicht.
Der Hintergrund: Im Licht der zunehmenden Unruhen warnen moderate Kräfte vor einer Spaltung Nigerias entlang religiös-ethnischer Linien. Zu den Befürchtungen trägt auch eine politische Krise wegen der Nachfolge von Präsident Umaru YarAdua bei, der seit Ende November krank ist und in Saudi-Arabien behandelt wird.
Oko war auf Reisen, als die Kämpfe begannen. "Als ich nach Hause zurückkehrte, lagen mein Haus und meine Werkstatt in Schutt und Asche." Muslimische Milizen, sagt Oko, hätten seine Frau und Kinder aus dem Haus gejagt und es in Brand gesteckt. "Sie haben auch meinen Vater, einen alten Mann, angezündet, der Leichnam war so verkohlt, dass ich ihn nicht mehr erkennen konnte." Oko hofft auf Hilfe. Die Regierung des Bundesstaats Plateau hat Gelder zugesagt. "Aber die Grausamkeit, die ich erlitten habe, lässt sich mit allem Geld der Welt nicht ausgleichen."
In weiten Teilen von Bukuru ist nach vier Tagen Gewalt ein Albtraum in Grau und Schwarz zurückgeblieben. Hausgerippe säumen die Straßen, ausgebrannte Autos liegen wie hingeworfen. Wo der Markt war, ist eine rußschwarze Wüstenei. "Der Rauch war so dick, dass wir die Gebäude auf der anderen Straßenseite nicht mehr sehen konnten", erinnert sich Samuel Dali. "Von überall her waren Schüsse zu hören, und die Polizei hat auf unseren Hilferuf hin nur abgewinkt, sie sei überlastet." Dali ist Dekan am Theologischen College für Nordnigeria in Bukuru.
Als Dali, ein ausgebildeter Sanitäter, sieht, wie viele Verletzte - Muslime wie Christen - in die Krankenstation der Hochschule eingeliefert werden, begreift er das Ausmaß der Unruhen. "Ich habe die Studenten zusammengerufen, und wir haben Patrouillen eingeteilt, um zu verhindern, dass der Campus gestürmt wird." Was die Studenten beobachten, machte ihnen Angst, sagt Dali. "Da gab es Soldaten, die Maschinengewehre an die muslimische Bevölkerung verteilt haben, und wir dachten, jetzt geht es uns an den Kragen." Einer der Studenten wird von Männern in Soldatenuniform vor dem Tor der Universität erschossen. Doch die Erstürmung bleibt aus. "Wir hatten Glück", sagt Dali lapidar.
"Dieser Kampf ist vorbei, aber die Nervosität unter den Christen ist geblieben", beschreibt Dalis Chef, Kanzler Tersur Aben, die Lage. Seit dem Einmarsch der Armee, die auf den Hauptstraßen von Jos alle 500 Meter Sperren errichtet hat, wird zwar nicht mehr gekämpft, doch von Normalität ist nichts zu spüren: Jos gleicht einer Stadt unter Belagerung. Um fünf Uhr, eine Stunde vor Beginn der nächtlichen Ausgangssperre, flüchten die Bewohner so panikartig aus der Innenstadt, dass der Verkehr stecken bleibt. Eine Stunde später sind Schüsse zu hören. Warnschüsse, heißt es, die die Nachzügler in die Häuser zurücktreiben sollen.
Aben glaubt, dass die Kämpfe weitergehen. "Das ist ein geplantes Pogrom der Hausa-Fulani, und Jos ist nur eine Zwischenstation auf dem Weg zur Herrschaft über das ganze Land." Der dominanten Volksgruppe im Norden wirft Aben vor, ihren Einflussbereich ausweiten zu wollen wie einst im 19. Jahrhundert. Damals übernahm das streng muslimische Hausa-Fulani-Emirat von Sokoro binnen weniger Jahrzehnte die Macht in den Sahelstaaten nördlich von Jos.
"Jetzt wollen sie die Kontrolle im Zentrum Nigerias übernehmen, heute in Jos, morgen in der nächsten Stadt", so Aben. Opfer seien die einheimischen Stämme der Berom und Gyel, die vom wachsenden Einfluss der Hausa-Fulani unter anderem die Einführung des Schariarechts befürchteten. Ein Blick auf die Karte zeigt, dass der Bundesstaat Plateau mit Jos als Hauptstadt die letzte Insel ist, in der das muslimische Recht nicht gilt. Seit der Jahrtausendwende ist es überall weiter nördlich, westlich und östlich eingeführt worden. "Wir sind eine Frontstadt", erklärt Kanzler Aben mit fester Stimme.
Tassie Ghata gehört zu denen, die an der Front kämpfen. "Gnade und Licht International" heißt die Missionsbewegung, der die Nigerianerin vorsteht. Vor einigen Tagen hat sie der Regierung in Abuja einen Bericht überstellt, in dem die jüngsten Ereignisse aus Sicht einer "Koalition christlicher Pfarrer" beschrieben werden. "Wir leben in einem christlichen Bundesstaat", beginnt Ghata ihre Version. "Was hier passiert, das ist ein heiliger Krieg gegen uns Christen und die einheimischen Stämme, ein Dschihad." Laut Ghata sind daran islamische Extremisten und Söldner aus dem muslimischen Nachbarstaat Niger beteiligt - Beweise dafür gibt es nicht. Doch Ghatas Glaubensbrüder und -schwestern verlangen auch keine. "Wir haben keine Angst mehr, wir fühlen inzwischen vor allem Wut und Hass." Zwar rate sie von Angriffen auf Muslime ab, "aber ich rate niemanden davon ab, sich zur Wehr zu setzen".
So aufgeheizt wie Tessie Ghatas Predigt ist die Stimmung seit Monaten. Im November machten in Jos erstmals Gerüchte die Runde, dass es bald einen Angriff auf Christen geben werde. Das Misstrauen wuchs, christliche Jugendmilizen begannen, Tag und Nacht Wache zu halten. Aus Angst vor ihnen marschierten bald auch muslimische Jugendliche auf. Niemand kann sagen, wie genau die Unruhen begonnen haben. Die meisten glauben, dass der Anlass unbedeutend war: ein kleiner Zwischenfall, nach dem sich die Gewalt wie eine Kaskade entlud.
"Wir haben schon seit Wochen Hass-SMS bekommen", erinnert sich Umar Farouk von der islamischen Bürgerbewegung Jamaat Nazrel Islam. "Ende Dezember haben dann Prediger in einer Pfingstkirche behauptet, die Muslime würden bereits Waffen sammeln." Farouk dementierte vor der Presse - doch das Gerücht war in der Welt. Nicht zufällig, sagt er. "Was wir hier von den Christen gesehen haben, ist der Versuch ethnischer Säuberungen. Die wollen uns vertreiben."
Den Christen mit ihren Überfremdungsängsten widerspricht Farouk. "Wir sind in den politischen Strukturen praktisch nicht repräsentiert, und das, obwohl die Verfassung jedem Nigerianer Freizügigkeit garantiert." Muslime wie er gehen in die Offensive: Sie wollen mehr, nicht weniger Mitspracherecht. "Nur wenn wir gleichberechtigt in Politik und Verwaltung repräsentiert sind, kann es gegenseitiges Verständnis geben", glaubt Farouks Kollege Sani Suleiman. Dass es diese Ambitionen sind, die die Angst vor einer Machtübernahme der Hausa-Fulani schüren, lässt Suleiman nicht gelten. "Es ist doch so: Wir werden zusammenleben müssen, das lässt sich nicht verhindern - die Politik muss den dafür nötigen sozialen Zusammenhalt garantieren."
Eine Klausel in Nigerias Landesverfassungen ist der Grund für den Kampf um die Macht. Sie garantiert den "Einheimischen" Vorrechte vor Zugezogenen oder "Siedlern". "Ich lebe seit 1983 in Jos, und meine Kinder sind alle hier geboren", erzählt der Soziologieprofessor Ogoh Alubo. "Aber ich und selbst meine Kinder gelten als Siedler: Deshalb haben sie keine Stipendien bekommen, sie können nicht in der Verwaltung arbeiten und bekommen kein politisches Amt." Das Problem sei, dass nirgends definiert sei, wer Einheimischer sei und wer nicht. "Die Berom werfen den Hausa-Fulani vor, Siedler zu sein, aber die Hausa-Fulani sagen: Wir waren hier, als Jos vor 100 Jahren gegründet wurde, wir sind Einheimische."
Mit dem wirtschaftlichen Niedergang sei das Thema immer brisanter geworden, sagt Alubo. "Im härteren Kampf um Arbeitsplätze und um Land entzweit sich die Bevölkerung - angestachelt von Politikern, die damit punkten wollen." Inzwischen gebe es immer mehr rein christliche Viertel und rein muslimische - der letzte Zusammenhalt gehe so Stück für Stück verloren. "Wenn wir das Problem der Rechte von Siedlern und Einheimischen nicht lösen", warnt Olubo, "dann haben die Unruhen hier gerade erst begonnen."
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