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Reisen spaltet

In seinem Film „El Medina – Die Stadt“ wandert der bekennende Grenzgänger Yousri Nasrallah durch die Megacitys in Europa und dem Nahen Osten. Ein Porträt des ägyptischen Regisseurs

von AMIN FARZANEFAR

Der ägyptische Film ist in der Krise. Die Jahresproduktion des Kinoimperiums, dessen Genrekatalog und Starsystem jahrzehntelang tonangebend war in der arabischsprachigen Welt, macht im Moment kaum das Dutzend voll. Die Gründe sind mehr als nur Missmanagement im Verleihwesen und eine Verstaatlichung, der Studios.

Ursachenforschung betreibt hier der Regisseur Yousri Nasrallah. Seit einem guten Jahrzehnt verfolgt der 49-Jährige bewusste Analyse, und das heißt Krisenkino: seine Problemfelder heißen Verwestlichung, Nepotismus, Despotismus, Korruption. Nasrallahs Taktik ist dabei nicht leicht zu fassen. Zum einen ist er bekennender Grenzgänger, der seine politischen Themen immer zwischen verschiedenen sozialen Milieus, Ländern und (Sub-)Kulturen – auch zwischen Dokumentarfilm und Fiktion – positioniert. Zweitens erscheint er als Rebell, der einmal etablierte Formen und Inhalte sofort wieder kippt, um neue Aspekte aufzuwerfen, auf Nebenfiguren und Peripherien zu verweisen.

Nasrallahs filmischer Lehrmeister ist Yussef Chahine, Patriarch wie Enfant terrible des ägyptischen Kinos, der als Erster zum Sampling der klassischen Gattungen – Musical, Melodrama, Historienschinken – überging. Es war wohl dieser Einfluss, der Nasrallah zum Spiel mit Genreversatzstücken brachte: „Mercedes“ (1993), eingangs Gesellschaftsdrama inmitten der mondänen ägyptischen Oberschicht, erweist sich bald als Satire, die zum Entwurf eines neuen, verrückten Orients gerät.

Nubi, der blonde und blauäugige Bastard aus hohem Hause, wird nicht nur von Islamisten angepöbelt, sondern landet zwischenzeitlich als nasseristischer Sozialist in der Psychiatrie. Bei seinem Driften durch die Rand- und Schattenzonen eines maroden Ägypten tritt er allerorten in Misthaufen, stößt immer wieder auf Missstände. Geldtransfer, Vetternwirtschaft, politische Intrigen, Drogen-, Waffen-, Mädchen- und Organhandel fügen sich wie beiläufig zu einer Zeitreise durch die postkoloniale Geschichte des Landes. Der Autor dieses Schelmenstücks ist von ähnlichem Zynismus geprägt wie sein Protagonist: Am Schluss gibt es ein Happy End inmitten eines von Fundamentalisten angezettelten Infernos.

Fundamentalisten, hört man in Ägypten häufig, seien die Kinder Nassers, die Enkel der antikolonialistischen Rebellen. Das schwierige Verhältnis zu ihnen ist ein weiteres Thema des neuen ägyptischen Fims. Einerseits gibt es die staatliche „Zero tolerance“-Politik, andererseits ist ein wachsender Einfluss der Fundamentalisten im Kulturbereich – gerade bei der Filmzensur – zu beobachten. Nasrallahs Dokumentarfilm „Apropos des garçons, des filles et du voile“ (1995) liest sich hier wie ein Kommentar.

Es handelt sich um eine ungewöhnliche Studie über die Jugend in Kairo, ihre Sexualmoral und die religiöse und soziale Funktion des Schleiers, auf den immer mehr zurückgegriffen wird. Die Jungs diskutieren herum, beantworten die Frage „Würdest du ein Mädchen heiraten, das mit dir ausgeht?“ nicht zwingend positiv. Auch die Äußerung einer Kopftuchträgerin: „Von Geburt an heben wir uns für unseren Gatten auf“, weist auf sexistische, patriarchale Strukturen hin – und doch ist das nicht alles. Nasrallahs Blick ist dabei nicht klassisch dokumentarisch, keine Annäherung an fremde Phänomene: Wir sind hier unter uns, im familiären Umfeld des Darstellers Bassem Samra aus „Mercedes“. Trotz oder vielleicht wegen der Tabus vermitteln die Akteure ungehemmte Lebensfreude: Das Schlussbild zeigt, wie jugendliche „Schleiereulen“ ein inbrünstiges Liebeslied singen. Der Satz Samras: „Ich glaube, wir alle sind gespaltene Persönlichkeiten“, mag dabei nicht nur auf seine Peergroup zutreffen.

Eine möglicher Weg für Ägypten mag darin liegen, solche Schizophrenien und multiplen Identitäten als Chance zu nutzen: Mit seinem neuen Film, „El-Medina“ (bei dem die französische Regisseurin Claire Denis am Drehbuch mitarbeitete), scheint Nasrallah nicht nur den islamistischen Nachwuchs und den Ziehvater Chahine hinter sich gelassen zu haben. Er ist auch in einer Gegenwart angelangt, die jenseits der historischen Erblasten nach Möglichkeiten sucht.

Wie bereits bei „Mercedes“ erfolgt die Vermittlung über die Reise eines Nomaden, einer Randfigur: Der Gelegenheitsarbeiter Ali flüchtet vor Familie, Frauen, Finanzmisere aus dem Kairoer Viertel Rod al-Farag nach Paris, um dort seinen Traum von der Schauspielerei umzusetzen. Die Moderne indes erweist sich als unwirtlicher Ort: Bald landet er als „Sans Papiers“ bei einer Schlepperbande, die ihn für gefakte Boxkämpfe verheizt. Als er aussteigen will, erwacht er mit Schädeltrauma und Totalamnesie in den Armen einer Stationsärztin. Zurück geht es nach Kairo, und weiter.

Bei den Wanderungsbewegungen seines Protagonisten durch die Megacitys des Ostens und Westens tischt Nasrallah hier weder Konzepte noch Stereotype auf. Die Besichtigung der Problemfelder Ägyptens, des Nahen Osten, der Welt erfolgt direkt, physisch, sinnlich, auch erotisch: Die Begegnung mit Fatiha, der schönen Hure auf der Brücke, das Bad der gut gewachsenen Jungs mit Rettungsringen im Hafenbecken sind wunderbare Momente in einer nüchternen Realität. Als Grenzgänger erscheinen Nasrallahs männliche Protagonisten auch im Sexuellen: Selten im arabischen Film werden Homoerotik wie Bisexualität so diskret wie deutlich inszeniert. Nicht nur weil Samra an die sanften virilen Jünglinge Pasolinis erinnert, schwingt hier etwas Neorealismus mit. In aller Flüchtigkeit, die der Gebrauch der DV-Kamera mit sich führt, gelingen Nasrallah situativ angemessene Bilder: satt leuchtend im Gewirr der Kairoer Gassen, düsterer später in den Pariser Vororten.

Erst die Amnesie, filmgeschichtlich etwas überstrapaziertes Zeichen für Identitätsverlust, das Vergessen auch der soziokulturellen Wurzeln, ermöglicht Ali einen freien Blick auf familiäre Zwänge, alte Lieben, vorgebliche Freunde. Die Rückkehr ist keine sentimentale oder resignative, sondern eine Entscheidung für den Augenblick. Aktuell dreht Nasrallah wieder an der Grenze – in Palästina. Interessant wird sein, welche Vision er von dort aus entwickeln wird.

„El Medina – Die Stadt“. Regie: Yousri Nasrallah. Mit Abla Kamel, Bassem Samra, Roschdy Zem u. a. Ägypten/Frankreich 1999, 108 Min.

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