piwik no script img

Reisen 2014Endlich daheim!

Hat sich das Reisen überholt? Einige Visionen für den Ausstieg aus dem Rattenrennen der Vielfliegerei zum Jahreswechsel.

Angekommen. Bild: imago/Margit Wild

Die „Big Visioniers“ treten in Aktion: Eine findige, erfolgsorientierte Szene von touristischen Großveranstaltern will den Tourismus umgestalten – mit Unterstützung der Welttourismusorganisation (WTO) und unter recht verhaltenem Beifall der Kirchen und NGOs.

Corporate Social Responsibility (CSR), Nachhaltigkeit und die Renaissance der Nähe sind ihre Leitworte. Das globale Netzwerk der Big Visioners, auf Deutsch Großvisionäre, hat konkrete Vorstellungen für diesen Strukturwandel entwickelt: Zurück zur Scholle, back to the roots, lautet die Parole der Unternehmen: „Scholle 2014“.

Und als wären die guten alten Sozialtugenden in die jungen Manager von heute gefahren, kümmern sie sich jetzt um „wahre Werte“. Sie wollen nicht länger Surrogate liefern, sondern Ursprünglichkeit, Authentizität, Nähe, Region, Land. Die I-Worte: Intimität, Introvertiertheit, Intensität und Interaktion statt der E-Worte: Extroversionen, Extrem, Eklektien und Exotiken.

Ist es das wert?

Gründe gibt es viele: Die zunehmend unsichere Weltlage und der weltumspannende Terrorismus haben die wirtschaftliche Zuversicht der Unternehmen irritiert, ihre Geschäfte an fernen Gestaden gefährdet. Die unsicheren Reisewege des Mittelalters grüßen die Reisezukunft. Die zunehmende Kritik an Umweltverschmutzung, unfairen Arbeitsbedingungen, an der Zweckentfremdung fruchtbaren Landes für schicke Clubs, des raren Gutes Wasser für Golfplätze, die Zerstörung der Küsten, taten das Ihrige.

Und die Klimabilanz des Tourismus ist katastrophal. Wer rund um die Welt fliegt für sein Vergnügen, verpulvert Ressourcen und hinterlässt Spuren, die durch nichts zu kompensieren sind. Auch nicht von Atmosfair. Nach Expertenmeinung trägt der weltweite Tourismus rund neun Prozent zu den globalen Emissionen bei. Ist es das wert, das Reisen in die Ferne?

Das touristische Universum von gestern war ein modernes Haus: gemütlich und bequem ausgestaltet, von der Kellerbar über die Sauna bis zur begrünten und verglasten Terrasse. Auf den Frühstückstischen fehlte nirgends das Nutella-Döschen – ob in Surinam, am Nordkap oder auf Trinidad. Kosmische Gemütlichkeit. Langweile. Überall dieselben Standards, dasselbe Lebensgefühl, derselbe Lebensstil. Ein Zustand, in dem die Welt und die Reiselust zunehmend vor die Hunde gehen.

Lustlos weit weg

Die Erotik sowieso. Der Tourismus betreibe Raubbau an der wichtigsten Ressource unseres Lebens, der Erotik, sagt beispielsweise der Kulturwissenschaftler Bruno August Krümpelmann. Organisierter Tourismus kanalisiere Verführungen und Normabweichungen, indem er Eigenbewegung verhindert. Er tilge die freien Räume über die schnelle Anreise und die Besetzung des Urlaubsraumes mit organisierten, verdichteten Aktivitäten.

Die Traumreisen der Veranstalter seien ein virtueller Ersatz für unsere konkreten Triebziele. Zeit ist Geld. Im organisierten Tourismus gehen so die freien Gestaltungsoptionen verloren. Aber genau das liebt Eros besonders. Eros, das ist für Krümpelmann der Flow, die schöpferische Kraft, die Herausforderung, die Zeit braucht, um sich voll zu entfalten. Die Lust schlechthin.

Diese suchen die Urlauber aber vergeblich. Verständlich, dass sie nur noch lustlos buchen. Das Umdenken der Manager trifft also auf diese harte Realität. Auf die Bedürfnisse der Touristen selbst. Dem wachsenden Bedürfnis nach mehr Heimeligkeit, nach Sinn, Ruhe, Entspannung, Entschleunigung, Familie, nach dem Ausstieg aus dem rasenden Stillstand.

Die Antwert: Landlust

Die Antwort ist Landlust. Der Trend der Trendsetter. Jene sagenumwobenen Großstädter mit einem Hang zu einem natürlichen und nachhaltigen Lebensstil – und dickem Portemonnaie. Diese Hoffnungsträger des grünen Konsums, die fast schon vergessenen Lohas (Lifestyle of Health and Sustainability), die erlebnis- und welthungrigen Vielflieger, diese Protagonisten von Lifestyle, Gesundheit und Nachhaltigkeit, stehen längst auf Landlust.

Mit Vollgas in den Hobbykeller. Grassierende Naturlust. Obst und Küchengeräte zu Stillleben. Verwunschene Weiher zur Dämmerstunde. Filigrane Gräser im Frostmäntelchen. Sternehäkeln zum Wohlfühlen. Stille. Alles ruht. Kräutersegen. Licht fürs Leben. Blumenparadies für Balkonien oder ich mache euch eine Kerze. Singen macht glücklich. Der Einödhof mit drei Generationen in der guten Stube als Ideal. Die Magie des Gartens.

„An lauen Abenden sollen in Tontöpfen Kerzen brennen, in den Baumkronen bunte Lampions hängen. Ein Glas Rosensekt lässig in der Hand, sollten alle dem Zauber des Gartens erliegen. Buffets wollte ich erstellen, Sehnsüchte wecken, mit allen Sinnen sollte der Garten genossen und dabei der Alltag vergessen werden“, schreibt beispielsweise Marina Uhl im Landlust-Magazin. Naturliebe, modeste Kleidung, Skepsis gegenüber falschem Luxus, postmaterielle Besinnlichkeit und die Liebe zum „Do it yourself“ – all das verspricht Notausgänge aus einem Rattenrennen der Vielfliegerei.

Das schlichte Naturerlebnis war der Aufhänger des touristischen Leitbildes der Unternehmen: „Scholle 2014“. Wer aber glaubt, dass Wandern und Radfahren schon alles sind, der hat die Fantasie der Macher unterschätzt. Die Big Visioniers, die unter dem Label der Nachhaltigkeit agieren und Qualität und Verantwortung im neuen Tourismus propagieren, wetteifern mit weltweiten Thinktanks zur Rettung des Globus.

Sie wollen das Land als den wahren Gefühlsraum erschließen und verkaufen. Kein Krümel Scholle, der jetzt nicht umgedreht wird, um ein findiges Angebot zu entwickeln, kein landaffines Bedürfnis der trendigen Lohas, das nicht als Konsumprodukt auf den Markt geworfen werden könnte. Die visionäre Angebotswelle der weltweit vernetzten Touristiker will dem Engagement für Natur und Umwelt, regionalen Projekten, Burn-out, Sinnsuche und Nähebedürfnissen gerecht werden. Die Provinz soll sich zu neuen Gastlandschaften wandeln, die die touristischen Heimkehrer mit offenen Armen und vor allem mit ganz neuen Versprechen empfängt.

Swinger-Swing- und Singclub im Herrenhaus

Man munkelt: Deutschlands größter Reiseveranstalter habe sich gerade die Option für die meisten der 2.000 herrschaftlichen Wohnsitze in Mecklenburg gesichert. Er plane dort intime Kontakträume: vom Swinger-, Swing- bis Singclub. Man munkelt auch, dass Korea in deutsche Klöster investiert, um Wellness und Sinnfindung zu professionalisieren. Industriebrachen werden zu Kräutergärten für Gottes Apotheke aus der Natur.

Abgehängte Regionen von Chemnitz über Bochum bis zum Saarland sollen zu Wildbeobachtungsstätten in Zusammenarbeit mit den Naturschutzverbänden werden, ein Drittel davon als Jagdrevier, um echtes Töten und Überleben in der Wildnis zu lernen. In abgehängten Landstrichen wie Mecklenburg oder Brandenburg blühen die Ideen.

Und neue Standards sollen gesetzt werden, auch für Schweine. Beispielsweise in Brandenburg. Denn auf der Agenda der touristischen Unternehmen: „Scholle 2014“ steht jetzt auch der Schutz unserer Mitwelt, das Engagement für gesunde regionale Produkte und selbstverständlich auch für das stressfreie Züchten und Schlachten von Schweinen. Die ersten großen Schweinemaststätten mussten schon nach Polen ausweichen.

Kuschelige Welt, die die lange vernachlässigten Bedürfnisse der modernen Menschen nach echter Heimat ernst nimmt, aufgreift, umsetzt? Drama des Eros? Die ganze Geschichte nur ein Fake? Wir warten ab.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!