: Reif für den Profifußball – bis auf das Stadion
Nach vier Jahren steht der TSV Havelse erneut vor dem Aufstieg in die dritte Fußball-Liga. Wenn er sich gegen Leipzig durchsetzt, ist die nächste Frage, wo der Dorfklub spielen soll

Von Christian Otto
Die gesamte Haupttribüne wirkt wie ein bröckelndes Kuriosum. Wenn die Spieler des TSV Havelse im heimischen Wilhelm-Langrehr-Stadion einlaufen, dient eine Art klappriger Vorhang als Sichtschutz. Als Begrenzung zwischen den Zuschauern und dem Durchgang zum Spielfeld kommt ein Stück Gartenzaun zum Einsatz. Wer sich ein Heimspiel dieses Regionalligisten ansieht, erlebt neben sehenswertem Fußball eine ganz besondere Kulisse. Und genau daran stören sich die Statuten des Deutschen Fußball-Bundes (DFB). Wenn der TSV Havelse in Kürze als Meister der vierthöchsten Spielklasse in die Aufstiegsrelegation startet, begleitet ihn der Makel, nicht in allen Belangen gut genug für die nächste Liga zu sein.
Eigentlich ist das wunderbar. Unter der in die Jahre gekommenen Tribüne riecht es nach einer Melange aus Schweiß, Massageöl und Bratwurst. Wenn sich TSV-Trainer Samir Ferchichi über etwas verbal ärgert oder lustig macht, hören die Zuschauer nahezu jedes Wort von ihm. Auf dem erhofften Weg in die 3. Liga und damit in eine schon sehr professionelle Spielklasse präsentieren sich die Havelser in vielen Belangen als Gegenentwurf zum etablierten Fußball. In der Saison 1990/91 hatte es der ambitionierte Verein aus Garbsen in der Region Hannover sogar schon einmal bis in die 2. Bundesliga geschafft.
Damals waren Dorfklubs mit authentischen Rahmenbedingungen im gehobenen Fußball noch geduldet. Mittlerweile gibt es exakte Vorschriften darüber, wie groß ein Drittliga-Stadion sein muss, über wie viel Lux die Fluchtlichtanlage verfügen soll und dass es eine Rasenheizung geben muss. All das ist dem TSV Havelse in seinem Stadion ohne millionenschweren Umbau nicht möglich.
Was genau treibt einen eher kleinen Verein an, sich mit den Großen der Branche messen zu wollen? „Ich glaube, die Region Hannover verträgt zwei Klubs im Profifußball“, hat Florian Riedel dem Kicker gesagt. Der ehemalige Profi ist Sportdirektor des Vereins und gleichzeitig Spieler. Ihm dürfte bewusst sein, dass der TSV Havelse immer eine ländliche Alternative zum großen Nachbarn Hannover 96 bleiben wird. Aber es ist beeindruckend, mit welcher Souveränität sich seine Mannschaft die Meisterschaft in der Regionalliga Nord vorzeitig gesichert hat. Als nächste Aufgabe warten am 28. Mai und 1. Juni zwei Relegationsspiele – gegen Lok Leipzig als Meister der Regionalliga Nordost.
Das ist dieses Nadelöhr, durch das sich der TSV Havelse zwängen muss, um wie schon 2021 die 3. Liga zu erreichen. Sie wollen da unbedingt wieder durch.
Es wäre unfair, den TSV Havelse vor allem anhand seines in die Jahre gekommenen Stadions und der dörflich geprägten Atmosphäre zu beurteilen. Der Verein um den Vorsitzenden Daniel Wolter folgt einem klaren Plan: starker Fokus auf sehr ehrgeizige Nachwuchsarbeit, Null-Toleranz-Politik gegenüber jeder Form von Diskriminierung plus nachhaltiges Handeln auf sowie neben dem Platz: Vom Leitbild des TSV Havelse kann sich so mancher Mittelständler in der freien Wirtschaft eine dicke Scheibe abschneiden.
Wenn der Verein unter dem Claim „Mission Profifußball“ für seine Vorteile wirbt, dann stellt er potenziellen Sponsoren „mehr Reichweite, mehr Sichtbarkeit und mehr Erfolg“ in Aussicht. Bisher unterstützen ihn die üblichen Verdächtigen wie lokale Banken und ein Energieversorger vor Ort. Sie nutzen eine Bühne, auf der mit kleinen Mitteln durchaus Großes bewirkt wird.
Noch ist der Aufstieg in die 3. Liga gar nicht geschafft. Und noch wird hinter den Kulissen darum gekämpft, in welchem Stadion der TSV Havelse in der nächsthöheren Liga antreten dürfte. Bei seinem letzten Ausflug in die 3. Liga vor drei Jahren waren Mannschaft und Fans dank einer Ausnahmegenehmigung für die Heimspiele in das 49.000 Zuschauer fassende Stadion von Hannover 96 ausgewichen. Sie haben dort Heimspiele mit wenig Stimmung, Erfolg und Umsatz ausgerichtet.
Die Statuten des DFB wirken für einen Verein wie den 1912 gegründeten TSV wie ein Abwehrbollwerk auf dem Weg nach oben. Entsprechend eindringlich ist ein Informationspapier formuliert, mit dem die Havelser Vereinsverantwortlichkeiten die lokale Politik sensibilisieren wollen. „Was hilft die besten Tabellen-Platzierung, wenn man am Ende der Saison nicht aufsteigen kann, um gegen die besten Mannschaften aus ganz Deutschland antreten zu können oder im Falle einer Teilnahme am DFB-Pokal attraktive Gegner wie der FC Bayern nicht nach Garbsen kommen?“, heißt es in dem höflich formulierten Bettelbrief. Er wirbt für die Modernisierung eines Stadions, an dessen Fundament am 1. Juni beim Aufstiegs-Rückspiel gegen Lok Leipzig mit vielen Gästefans tüchtig gerüttelt werden wird.
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