Regisseurin über Neo-Western: "Weil sie Gott auf ihrer Seite wähnten"
Kelly Reichardts Film "Meeks Cutoff" ist kein klassischer Western. Ein Gespräch über Reisestrapazen, strenge Kopfbedeckungen und die Stille der Wüste.
taz: Frau Reichardt, "Meek's Cutoff" ist Ihr erster historischer Film. Was hat Sie am Western-Genre gereizt?
Kelly Reichardt: Zunächst einmal ist meine Perspektive im Vergleich zum klassischen Western verschoben, weil mein neuer Film die Besiedlung Nordamerikas aus der Sicht von Menschen zeigt, die keine Verfügungsgewalt haben. Jon Raymond [der Drehbuchautor, Anm. der Red.] war zufällig auf die wahre Geschichte von Stephen Meek gestoßen, und ich finde, sie besitzt immer noch - oder gerade wieder - eine brennende Aktualität.
Meek ist ein Anführer, der eine Gruppe Menschen in die Wüste führt, ohne zu wissen, was er eigentlich tut; gleichzeitig gibt es die Siedler, die ihrem Anführer zu misstrauen beginnen, obwohl ihr Leben von ihm abhängt. Auch das Thema Wasser als lebenserhaltende Ressource und die Umweltfragen, die im Film anklingen, besitzen heute wieder eine Relevanz.
Obwohl sie erst vier Langfilme gedreht hat, zählt Kelly Reichardt, 47, zu den vielversprechendsten amerikanischen Regisseurinnen. Zwölf Jahre lagen zwischen ihrem preisgekrönten Debüt "River of Grass" (1994) und dem Nachfolger "Old Joy" (2006). Ihr dritter Spielfilm, "Wendy und Lucy" (2008) über ein junges Mädchen, das nach einer Autopanne in eine existenzielle Krise stürzt, war ihr internationaler Durchbruch. Reichardts Filme sind minimalistisch; gerade das ermöglicht es ihnen, die sozialen und kulturellen Verwerfungen im Amerika der Gegenwart zu erforschen.
Die Siedlertrecks über den Oregon Trail dienten Mitte des 19. Jahrhunderts dazu, um den pazifischen Nordwesten Amerikas, der vor allem von Briten bewohnt war, mit "Amerikanern" aus dem Osten zu besiedeln. Steckt im Bild von der Nation im Zustand der Identitätsfindung heute Aktualität?
Wenn man die Tagebücher der Siedler liest, bekommt man einen Einblick in die tiefe Religiosität dieser Menschen. Sie sind in den Westen aufgebrochen, ohne zu ahnen, was sie dort erwartet - weil sie Gott auf ihrer Seite wähnten. Darin klingt schon der amerikanische Anspruch an, dass die Eroberung des Landes im Einklang mit Gottes Wille stehe. Es ist eine sehr verzwickte Erzählung. Einerseits behandelt mein Film die Ausbeutung des Landes und seiner Vergangenheit; andererseits erzählt er auch eine heroische Geschichte.
Der Eindruck, den man aus den Tagebüchern der Siedlerinnen gewinnt, unterscheidet sich gravierend von dem Bild, das der Western uns als Filmgenre vermittelt. Das Leben dieser Menschen war ein zähes, langwieriges Unterfangen. Die Tagebücher beschreiben auch die unglaubliche Monotonie, dieses riesige Land zu durchqueren.
Was Ihr Film eindrucksvoll schildert. "Meek's Cutoff" verfällt fast in einen Trancezustand. Menschen marschieren durch die Wüste oder sitzen am Lagerfeuer, Wagenräder werden umständlich gewechselt. Die Szene, in der Michelle Williams zwei Warnschüsse abgibt, dauert gefühlte zwei Minuten.
Die Vorstellung von Zeit war damals noch völlig anders. Das Leben war insgesamt viel arbeitsintensiver, jede Handlung kostete enorm viel Zeit. Je länger ich über diesen Umstand nachdachte, desto klarer wurde mir, dass die Langsamkeit und die Ausdauer eine ganz eigene Spannung in sich bergen, Topoi, die dem klassischen Western für gewöhnlich fehlen.
Ging es Ihnen darum, die traditionelle Rhetorik des Western gezielt zu untergraben oder hält sich Ihr Film einfach nur eng an die Tagebücher der Siedler und Siedlerinnen?
Viel von "Meek's Cutoff" ist bereits in Jon Raymonds Skript angelegt. Für mich lag die Herausforderung darin, aus dem Alltag, den Jon beschreibt, einen eigenen filmischen Rhythmus zu entwickeln. Zu Beginn der Reise sind die Tagebücher noch poetisch, es wird viel von Gottes Land und all diesen großen Idealen gesprochen. An dem Zeitpunkt, wo der Film einsetzt, als der Treck längst vom Weg abgekommen ist, sind die Menschen schon zu Tode erschöpft, und die Tagebücher bestehen nur noch aus knappen Aufzählungen von Arbeitsabläufen. Als ich diese Passagen las, wusste ich, was für einen Film ich machen wollte.
Sie haben "Meek's Cutoff" nicht in Widescreen gedreht, sondern im beinah schon historischen Academy-Format. Das setzt Ihre Figuren in ein ganz anderes Verhältnis zur Landschaft als der klassische Western.
Für mich war es wichtig, den Zuschauern zu verstehen zu geben, dass ein Mensch mit den damaligen Mitteln gerade zwölf Meilen pro Tag vorankam. Mit Cinemascope kann man sozusagen schon in das Morgen beziehungsweise zurück ins Gestern blicken. Ich aber wollte mich voll und ganz auf die Menschen im Jetzt konzentrieren. Die schmalere, fast quadratische Kadrage versinnbildlicht für mich auch die Sicht der Frauen unter ihren großen Hauben, die keine periphäre Sicht erlaubten.
Ich war sehr beeinflusst durch Robert Adams' Fotografien vom modernen amerikanischen Westen, für die er oft quadratische Einstellungen benutzte, um mehr mit dem Vordergrund zu arbeiten. Im gewisser Weise verliert man beim Widescreen-Format Informationen an den Rändern.
Mich hat besonders die Solidarität unter den Frauen bewegt. Die Frauen laufen meist zusammen, nicht mit ihren Männern.
Diese Nähe zwischen den Frauen war eine Konsequenz der strikten Arbeitsteilung im Treck. Die Männer waren in erster Linie damit beschäftigt, die Wagen zu lenken. Für mich als Western-Fan war es aufregend, Einblick in die weibliche Sicht dieser Epoche zu bekommen. Die Frauen haben diese beschwerliche Reise auf sich genommen, ohne ein wirkliches Mitspracherecht zu haben. Aus den Tagebüchern geht jedoch hervor, dass sie in den Zelten mit ihren Ehemännern Politik gemacht haben. Das war, wenn sie so wollen, ihr Machtbereich.
Der Umgang der Männer mit ihren Frauen ist interessant. Er ist respektvoll und sehr formal. Hatte das etwas mit der Religion zu tun?
Ich denke schon. Die Frauen haben ihren Ehemann meist beim Nachnamen angesprochen, das war normal. Man darf aber nicht vergessen, unter welch widrigen Umständen diese Trecks stattfanden. Das war auch eine sehr formale Angelegenheit, bis hin zur Kleidung. Die Leichtigkeit der Reise liegt eher in der Freundschaft unter den Frauen. Ich erinnere mich an den Eintrag einer Frau, die schreibt, dass sie ihr eigenes Tagebuch unter anderem deshalb führt, falls ihr Mann sie eines Tages besser kennenzulernen wünsche. Das fand ich einfach unglaublich.
All ihre Filme sind im Grunde gescheiterte Roadmovies. Menschen kommen vom Weg ab, bleiben stecken oder finden ihr Ziel nicht. Es gab eine Zeit, da war das Roadmovie noch positiv konnotiert, als Genre der Selbstfindung.
Ja, aber das ist lange her. Was derzeit in Amerika passiert, stimmt mich nicht gerade optimistisch. Die Menschen sind in ihrer Hoffnung auf einen etwas demokratischeren Präsidenten maßlos enttäuscht worden. Das Roadmovie ist immer auch ein Spiegel seiner Zeit. Wenn du früher einen Trip durch die USA gemacht hast, besaß jeder Bundesstaat noch seine eigene Identität. Es gab regionales Essen, lokale Radiostationen etc. Heute sehen die Stadtbilder überall gleich aus, ein Taco Bell reiht sich an den nächsten. Diese Uniformität ist nicht nur in den USA zu beobachten. Die Orte verlieren allmählich ihren Charakter, ihre Spezifität.
Ihre Filme dagegen zeigen diese verlorenen Orte mit einer Genauigkeit, die man schon politisch nennen könnte. Ein durchschnittliches Kleinstadtnest wie in "Wendy und Lucy" mit seinen ewig gleichen Straßenzügen aus Gebrauchtwarenhändlern, Autowerkstätten und Einkaufszentren kriegt man heute im amerikanischen Independentkino kaum noch zu sehen.
Die Genauigkeit ist eine Frage der Recherche. Ich bin für jeden Film über Monate herumgereist, um - wie im Falle von "Old Joy" - die besten heißen Quellen oder für "Wendy und Lucy" den richtigen Parkplatz zu finden. Location Scouting ist der längste und zermürbendste Teil meiner Arbeit. Aber je mehr man die Drehorte eingrenzt beziehungsweise eliminiert, desto spezifischer wird auch das Bild von dem Ort, der einem vorschwebt. Dieser Aspekt meiner Arbeit ist dann wiederum hilfreich beim Ausarbeiten der Geschichte.
Haben die Orte auch einen Einfluss auf das Sounddesign ihrer Filme? In "Meek's Cutoff" arbeiten Sie oft mit Totalen, und interessanterweise nimmt die Tonspur ebenfalls die gesamte Geräuschkulisse der Einstellung auf, so dass von den Gesprächen in der Distanz oft nur ein Murmeln zu vernehmen ist.
Die Wüste ist ein sehr stiller Ort. Manchmal saß unser Tonmann stundenlang herum, ohne dass sich die Nadel seiner Messgeräte auch nur einen Millimeter rührte. Wir haben uns lange überlegt, wie wir diese Stille im Film rüberbringen könnten, ohne dass der Film komplett geräuschlos wird. Am Ende haben wir uns dazu entschlossen, den Ton mit Boom-Mics aufzunehmen, was die Stimmen etwas dumpfer macht, dafür aber die Umweltgeräusche voll erfasst. Ich erinnere mich an den Dreh in der Salzebene, einer zentralen Szene für die Männer. Doch die werden nur in der Rückansicht gezeigt, während die lauschenden Frauen in Nahaufnahmen zu sehen sind, obwohl sie gar keine Dialoge haben
Auch bei solchen ästhetischen Erwägungen geht es mir immer darum, die Perspektive meiner Figuren zu verdeutlichen. Die Frauen sind von den Entscheidungsprozessen ausgeschlossen, sie müssen die Männer angestrengt belauschen. Ich will die Zuschauer an dieser Perspektive teilhaben lassen.
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