Regisseurin Faltin über "La Paloma": "Das Lied bringt Blumen zum Blühen"

Das Lied "La Paloma" feiert 150. Geburtstag. Regisseurin Sigrid Faltin über ihren Dokumentarfilm, der zum Jubiläum des Evergreens erscheint.

"Ich dachte: Das ist doch ein tolles Filmthema": Szene aus "La Paloma" Bild: dpa

taz: Frau Faltin, erinnern Sie sich noch, wann Sie das erste Mal "La Paloma" gehört haben?

Sigrid Faltin: Ich weiß nicht, ob ich da überhaupt schon laufen konnte. Ich bin mit den Versionen von Freddy Quinn und Hans Albers aufgewachsen. Für mich stand das Lied für die Waterkant, "La Paloma" war Hamburg. Volkstümliche Musik eben und nicht sonderlich begehrenswert. Ich hatte es auch immer ein wenig unter Naziverdacht. Schon allein deshalb musste man das Stück ablehnen.

Dabei war die Albers-Version ja genau das Gegenteil …

Genau. Goebbels hatte 1943 zu Helmut Käutner gesagt: Machen Sie mir einen Film über die Marine. Was dann dabei rausgekommen ist, hat den Nazis nicht gefallen. Käutners "Große Freiheit Nr. 7" war subversiv, er hat dazu auch den Text von "La Paloma" neu geschrieben, die wichtigste Zeile lautete vielsagend "Einmal muss es vorbei sein". Auch der ursprüngliche Titel, "Große Freiheit" ging Goebbels gegen den Strich. Die offizielle Uraufführung war dann erst nach dem Zweiten Weltkrieg - der erste deutsche Film, der nach dem Krieg im Kino lief.

"Mich trägt die Sehnsucht fort in die blaue Ferne", singt Hans Albers. Ist das Lied über die weiße Taube auch überall sonst ein Lied über Sehnsucht?

Kommt darauf an, wie Sie Sehnsucht definieren. Es ist auf jeden Fall eine Projektionsfläche für Emotionen. In Mexiko ist es der Wunsch nach Demokratie, in Kuba nach Freiheit, in Rumänien ist es die Sehnsucht nach denen, die weggegangen sind auf der Suche nach einem besseren Leben. In Hawaii ist es die Sehnsucht, die Gelassenheit, jenen "Aloha-Spirit", zu erhalten. Und in Auschwitz, als es Coco Schumann und die "Ghetto Swingers" spielten für die, die auf dem Weg in die Gaskammern waren, war es schlicht der Wunsch nach Überleben.

Also nicht einfach ein Seefahrersong.

Diese Assoziation ist typisch deutsch, das gibt es sonst nirgends. Als der Originaltext ins Französische übersetzt wurde, tauchten dort erstmals Matrosen auf, die erste deutsche Fassung von 1865 hat sich ganz klar daran orientiert. Als dann später die deutsche Marine die Weltmeere erobern sollte, passte dieser Liedtext perfekt.

Und wann haben Sie erkannt, dass hinter "La Paloma" mehr steckt als Matrosenromantik?

Das war 1999, mein Mann brachte die CDs mit den unterschiedlichen Interpretationen nach Hause, die der Münchner Klangkünstler Kalle Laar zusammengestellt hat. Ich dachte: Das ist doch ein tolles Filmthema. Ich habe prompt Kalle Laar angerufen, der sagte mir dann aber, es seien schon tausend andere Leute auf die gleiche Idee gekommen, und ich möge mich doch in einem Jahr noch einmal melden. Im Dezember 2003 sind Kalle und ich zu unserer ersten Recherchereise aufgebrochen. Nach Vitoria in Spanien, wo Sebastián Iradier, der Komponist von "La Paloma", begraben liegt. Sogar die Rathausglocke dort läutet in der Melodie seines Lieds, jeden Mittag Punkt zwölf.

Wie haben Sie weitergemacht?

Kalle Laar konnte dann nicht weiter mitreisen. Er taucht mit seiner riesigen "La Paloma"-Sammlung im Film immer wieder auf, aber ihm geht es in erster Linie um die verschiedenen Rhythmen und Melodien. Mich haben die Geschichten mehr interessiert, die auch von den variierenden Liedtexten transportiert werden. Jemand hat mal geschrieben, das Lied sei der Soundtrack der vergangenen 150 Jahre. Da ist was dran.

Es gilt als das meistinterpretierte Lied der Welt. Wie ähnlich sind sich denn die Varianten überhaupt?

Im Grunde ist "La Paloma" ein Symbol der Globalisierung, wie sie sein sollte. Nicht wie klebrige braune Limonade, die überall gleich schmeckt. Viele denken ja, man kann dieses Lied irgendwann nicht mehr hören - stimmt nicht. Denn was die vielen Versionen verbindet, ist in erster Linie nur die Melodie. In den wenigsten Fällen kennt man das Stück unter dem Titel "La Paloma". Oft höre ich dann: Was? Una Paloma Blanca? - Nein!, sage ich dann. Als wir den Taxifahrer auf Sansibar fragten, ob er "La Paloma" kenne, mussten wir es ihm erst vorsingen. Dann sagte er: "Jaja, das ist ein altes sansibarisches Volkslied!" Wir haben auch überlegt, ob wir nicht Rapper oder HipHopper bitten sollen, eine Variante aufzunehmen. Aber so etwas muss von allein entstehen.

Es gibt ja aktuelle Interpretationen. In Mexiko sind die Versionen von Eugenia León Hits.

León war ein großer Fund. Die Sängerin ist ein Star in Mexiko, wir waren ganz glücklich, dass wir eine Audienz bei ihr bekommen haben. Sie ist politisch sehr engagiert, hat einen unglaublich wachen Geist. Als 1994 mit dem Nafta-Abkommen die Freihandelszone zwischen USA, Kanada und Mexiko eingerichtet wurde, entstand ihr erstes Protestlied nach der Melodie von "La Paloma". Seither variiert sie es immer weiter: Sie sang gegen den Irakkrieg, zuletzt gegen den Wahlbetrug in Mexiko, die Songs sind ein Erfolg in ihrer Heimat. Als ich den Film gerade in Washington bei der internationalen Premiere vorstellte, haben die Zuschauer diese amerikakritische Note dankbar bemerkt. "La Paloma" als Protestlied hat in Mexiko übrigens Tradition.

Inwiefern?

Seit Maximilian von Habsburg in den 1860ern Kaiser von Mexiko war, diente "La Paloma" immer wieder als Basis für Spottlieder. Zur Revolution um die vorletzte Jahrhundertwende tauchten sie wieder auf. So ist das Lied ein Symbol für Widerstand geworden. Es gibt sogar Redewendungen wie: "Das ist einer, der immer die Palomita hören will." Das sagt man zu Träumern, wie Kaiser Max einer war. Der galt als gutmütiger, aber eben auch schwacher Herrscher.

Sie erwähnten Spanien, Rumänien, Mexiko - wohin sind Sie dem Lied denn noch hinterhergereist?

Wir waren in Kuba, im Baskenland, in Deutschland, auf Sansibar. Wir haben aber nicht alles am Stück gedreht. Auf Sansibar mussten wir etwa auf den Heiratsmonat warten - dort ist "La Paloma" nämlich ein Hochzeitslied. Überhaupt: Ich habe festgestellt: "La Paloma" taucht an den entscheidenden Schlüsselszenen des Lebens auf, in Rumänien singt man es etwa auf Beerdigungen. Wir sind auch nach Hawaii gereist, obwohl ich lange geschwankt habe, ob ich nicht doch lieber die Afghanistan-Geschichte mit reinnehmen soll.

"La Paloma" in Afghanistan?

Ja, da gab es den sogenannten Roy Black Afghanistans, Ahmed Sahir, Sohn des früheren afghanischen Ministerpräsidenten. Er sang "La Paloma" mit paschtunischen, indischen Anklängen. Man nennt Sahir auch Afghanistan-Elvis. Aber leider konnte ich kein Bildmaterial auftreiben, das Sahir zeigt, wie er "La Paloma" singt. Deswegen ist er rausgeflogen.

Sie drehen seit fast 20 Jahren Dokumentarfilme. Was hat Sie denn an einem solchen Musikfilm gereizt?

Ganz einfach: Musik verbindet. Singen hat ja etwas sehr Altmodisch-Deutsches. Dass das bei uns verschwunden ist, ist ein kultureller Verlust. Wie selbstverständlich ist es dagegen für die Banatdeutsche Katharina Hellstern im Film. Sie hat noch das handgeschriebene Liederbuch ihres Vaters in der Küchenschublade! Dass Musik die Menschen öffnen kann, habe ich auch in meinem Team erlebt: Der Tonmann und der Kameraassistent hatten "La Paloma" noch nie vorher gehört. Ihre Augen haben jedes Mal geleuchtet, wenn wir wieder eine neue Version gefunden haben.

Wie viele Fassungen haben Sie denn mittlerweile in Ihrem Plattenschrank?

Es gibt zwar immer wieder Freunde, die mir eine Aufnahme schenken, aber ich bin keine Sammlerin. Obwohl: Ich habe ganz am Anfang der Recherche mal bei Ebay geschaut, was es dort gibt. Und habe mir dann eine "La Paloma"-Spieluhr aus Porzellan ersteigert und ein Akkordeon Marke "La Paloma". Beides taucht jetzt im Vorspann des Films auf.

Das Stück funktioniert augenscheinlich auf der ganzen Welt: Steht "La Paloma" am Ende für so etwas wie einen universellen Musikgeschmack?

Das ist wieder die Frage nach dem Geheimnis dieses Lieds. Ich bin dem ja auch auf den Grund gegangen, habe Doktorarbeiten gesucht, Psychologen gefragt, ob es so etwas wie ein kollektives musikalisches Gedächtnis der Menschheit gibt. Eine australische Wissenschaftlerin hat vor 30 Jahren sogar Pflanzen mit Musik beschallt: Bei "La Paloma" haben sie geblüht, bei Heavy Metal sind sie geschrumpft. Aber das lag nicht an "La Paloma" direkt, sondern an den Geigen. Hinter das Mysterium dieses Lieds werden wir wohl nie kommen.

INTERVIEW: ANNE HAEMING

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