Regisseur Michel Franco über seinen Film „Sundown“: „Ich spiele mit Erwartungen“
Michel Franco hat einen Streifen über Kriminalität in Mexiko gedreht. Ein Gespräch über Gangster in Uniform und den einstigen Urlaubsort Acapulco.
Ein Mann (Tim Roth) nutzt den Familienurlaub im Luxusressort in Acapulco, um auszusteigen. Als die Nachricht eines Todesfalls Alice (Charlotte Gainsbourg) und die Kinder zur Rückkehr nach England zwingt, gibt Neil vor, seinen Pass nicht zu finden und bleibt allein zurück. Er will seine Ruhe, raus aus allen Verpflichtungen. Oder steckt mehr dahinter? Der mexikanische Regisseur Michel Franco („New Order“) inszeniert in „Sundown“ ein ambivalentes Katz-und-Maus-Spiel mit einem Protagonisten, aus dem man lange nicht schlau wird. Und zeigt zugleich Mexiko als Klassengesellschaft, die angesichts der grassierenden Kriminalität zunehmend abstumpft.
taz: Herr Franco, wie schon in Ihrem vorherigen Film „New Order“ geht es auch in „Sundown“ um Gewalt, die in die scheinbar geschützte Welt der Mittel- und Oberschicht einbricht. Ihr neuer Film ist dabei fast noch verstörender, weil er zeigt, wie die Urlauber am Strand von Acapulco scheinbar gleichgültig auf einen Mord reagieren …
Michel Franco: Das ist die Realität. Ich entschuldige das nicht, ich zeige es nur. Nach der Schießerei, bei der die Badenden schnell zur Tagesordnung übergehen und seelenruhig Tacos essen, laufen auf dem kleinen Bildschirm in der Strandbar Aufnahmen des realen Ereignisses, das Vorlage für diese Szene war.
Damals kamen die Killer auf Jetskis und eröffneten das Feuer. Die lokalen Zeitungen nannten das Attentat später „James Bond Style“, als wäre die Schießerei ein Spektakel und gar nicht real. Damals wurde der Tatort tatsächlich nur ein paar Meter weit abgesperrt und die Touristen ließen sich beim Sonnenbaden nicht weiter stören. Diese Gewalt ist alltäglich und die Leute sind davon abgestumpft. Auch die Figur von Tim Roth reagiert gleichgültig, hat aber ihre ganz eigenen Gründe.
Sie selbst sind in Mexico City aufgewachsen. Wie gut kannten Sie Acapulco?
In meiner Kindheit sind wir sicher sieben-, achtmal pro Jahr zum Baden hingefahren, oft nur übers Wochenende. Bis Ende 20 war ich regelmäßig dort, dann fing es an, gefährlich zu werden. Vor drei Jahren bin ich dann zum ersten Mal seit Langem wieder hin und es war einerseits toll, aber dann wurden wir im Auto von ein paar Polizisten mit Maschinengewehren angehalten und ziemlich aggressiv angegangen, ohne Grund. Meine nichtmexikanische Freundin wusste nicht, was zur Hölle passierte. Sie wollten Geld, es waren Gangster in Uniform. Es ging zum Glück glimpflich aus.
Diese Gegend galt lange als Urlaubsparadies. Was hat sich verändert?
wurde 1979 in Mexico City geboren. Sein Spielfilmdebüt „Daniel & Ana“ lief 2009 in Cannes, wie auch sein zweiter Spielfilm „Después de Lucía“ (2012). „Chronic“ (2012) war sein erster englischsprachiger Film. Sein dystopischer Thriller „New Order“ lief 2020 in Venedig.
Der Caleta Beach, wo wir gedreht haben, ist das Acapulco, das man aus Elvis-Presley-Filmen kennt. Der Tourismus dort ist ein Riesengeschäft, nicht nachhaltig und hochgradig korrupt. Das Ausmaß an organisierter Kriminalität und Gewalt, das seit Jahrzehnten das Land und die Gesellschaft prägt, betraf früher vor allem den Norden Mexikos, das Grenzgebiet zu den Vereinigten Staaten, jetzt ist es überall.
Und Acapulco gehört mittlerweile zu den gefährlichsten Orten in ganz Südamerika. Täglich werden Dutzende Menschen ermordet, Frauen werden vergewaltigt oder verschwinden ganz. Und wenn man es anzeigt, wird es meist nur schlimmer, weil die Polizei selbst korrupt ist.
Wie sicher fühlten Sie sich bei den Dreharbeiten?
Wir wurden von den Behörden vor Ort unterstützt. Aber noch wichtiger war der Support der Anwohner selbst, wir konnten viele von ihnen für den Film gewinnen, als Komparsen und für kleinere Nebenrollen. Ich reiste vorab mehrere Male dorthin und erklärte, was wir vorhaben. Ich fragte sie, ob sie ein Problem damit haben, wenn ich ihren Strand so zeige, und sie meinten, das sei harmlos verglichen mit der Realität.
Ihr Protagonist ist britischer Tourist. Hätte diese Geschichte auch mit einer mexikanischen Oberschichtfamilie funktioniert?
Mir war wichtig, dass er die Sprache und die Codes nicht versteht, dass er verloren ist in diesem Paradies. Er entscheidet sich, einfach dazubleiben und am Strand Bier zu trinken und nichts zu tun. Der vermeintliche Aussteigertraum. Er hat Gründe für sein Verhalten, er hat nichts mehr zu verlieren. Ich spiele mit Erwartungen und Vorurteilen, wie wir Menschen schnell in gut und böse einordnen, und überlasse es dann dem Publikum, sich einen Reim auf ihn zu machen.
Wie haben Sie Ihrem Hauptdarsteller Tim Roth diesen doch sehr enigmatischen Neil erklärt?
Bei unserer ersten Zusammenarbeit, „Chronic“ von 2015, hatte ich ihn noch konkret gefragt, wie ich die Rolle für ihn umschreiben soll. Hier war es anders, ich war so müde, deprimiert und verloren, dass diese Figur wie von selbst entstand. Ich schrieb das Drehbuch in zwei Wochen, ohne zu wissen, ob es etwas taugt.
Als ich es Tim schickte, sagte er sofort zu und hatte nur minimale Anmerkungen. Anstrengend wurde es erst beim Dreh, weil er dann doch Fragen hatte, viele Fragen, die ich ihm nicht alle beantworten konnte und die er selbst für sich klären musste. Aber wenn ich jemanden wie Tim Roth besetze, will ich ja gerade, dass er sein Ding macht, etwas von sich einbringt.
Warum steckten Sie damals in einer Krise?
Ach, aus persönlichen Gründen, die nicht so interessant sind. Ich hatte einige schlechte Entscheidungen in meinem Privatleben getroffen und war sehr unglücklich, eine massive Midlifekrise. Auch beruflich war ich ausgebrannt, ich hatte fast fünf Jahre gekämpft, um „New Order“ drehen zu können, und es war bis zum Schluss nicht klar, ob es gelingt. Alle rieten mir dazu, aufzugeben, die Finanzierung, die Drehgenehmigungen auf den Straßen von Mexico City, alles schien unmöglich. Ich war sehr niedergeschlagen und in dem Zustand schrieb ich „Sundown“.
Die scheinbar gleichgültige Hauptfigur irritiert dabei ebenso wie der Tonfall zwischen Familiendrama und Thriller …
„Sundown – Geheimnisse in Acapulco“. Regie: Michel Franco. Mit Tim Roth, Charlotte Gainsbourg u. a. Mexiko/Frankreich/Schweden 2021, 83 Min.
Und Komödie! Wenn auch eine düstere. Der Film ist auf eine kaputte Art sehr lustig. Die erste Fassung hatte ich intuitiv geschrieben, erst danach las ich Camus’ „Der Fremde“ und Melvilles „Bartleby, der Schreiber“ und erkannte darin einen ähnlichen Tonfall, tragikomisch und absurd. Früher nahm ich alle möglichen Filme als Referenzen, um meine eigene Stimme zu finden, war sehr radikal in meinem Stil.
Heute habe ich mehr Selbstvertrauen, Neues auszuprobieren und mich auf meine Intuition zu verlassen. Auch mein Regelwerk ist nicht mehr so strikt wie früher. Die Kamera muss nicht minutenlang in einer festen Einstellung verharren, sie darf sich auch mal bewegen!
Sie haben „Sundown“ gedreht, während „New Order“ noch im Schnitt war. Laufen Sie immer auf Hochtouren?
Ich kann es mir nicht anders vorstellen. Mir wurde schon öfter geraten, mal eine Schaffenspause einzulegen. Wozu? Was soll ich in drei Monaten ohne Arbeit tun? Zum einen muss ich meinen Lebensunterhalt verdienen. Ich drehe ja keine Blockbuster, die irre Summen einspielen. Ich bekomme als Regisseur keine Gage, weil ich meine Filme selbst produziere und mich nicht bezahle. Ich weiß immer erst am Ende, ob noch Geld übrigbleibt. Und ich finde es auch leichter, in Bewegung zu bleiben, Filmemachen ist eine Übungssache.
Man wird mit der Zeit besser, hoffe ich zumindest. Davon abgesehen muss ich aber auch zugeben: Ich habe im Grunde kein Privatleben, bin nicht verheiratet, habe keine Kinder. Ist das traurig? Vielleicht. Aber Filme wurden mein Leben. Ich sehe es nicht als Opfer oder Verzicht, es ist, was ich immer wollte, seit meiner Jugend.
Was wollen Sie mit Ihren Filmen erreichen?
Der erste Schritt zu einer Veränderung ist, Missstände anzusprechen und ein Bewusstsein dafür zu schaffen. In Mexiko werde ich oft dafür angegriffen und als Nestbeschmutzer beschimpft. Schon „New Order“ wurde in Mexiko zum Skandal aufgebauscht, bevor er überhaupt zu sehen war, nur aufgrund des Trailers. Viele Menschen wurden wütend, weil ich Seiten des Landes zeige, die sie lieber verschweigen würden. Und weil sie eine „Botschaft“ vermissen. Ich bin nicht euer Lehrer! Aber vielleicht war die Kontroverse am Ende sogar für etwas gut, weil eine Debatte in Gang kam. Und das passiert mit „Sundown“ hoffentlich auch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Bundestag bewilligt Rüstungsprojekte
Fürs Militär ist Kohle da
Kürzungen im Berliner Haushalt
Kultur vor dem Aus
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht räumt Irrtum vor russischem Angriff ein
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren