Regisseur Cantet über französische Jugend: "Kampf ist die zentrale Lebenslage"
Laurent Cantets Film "Die Klasse" widmet sich Bildung unter erschwerten Bedingungen. Ein Gespräch über Angst vor der Energie der Jugend und Vorzüge von Laiendarstellern.
LAURENT CANTET wurde 1961 in Melle geboren. Seine Eltern sind Lehrer. 2001 erhielt er für seinen ersten abendfüllenden Spielfilm, "Ressources Humaines", (1999) einen César. Bereits damals arbeitete er mit Laiendarstellern. Anschließend drehte er "Lemploi du temps" ("Auszeit", 2001) und "Vers le sud" ("In den Süden", 2005). "Die Klasse" wurde in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet und ist in der Kategorie "Bester nicht englischsprachiger Film" für einen Oscar nominiert.
taz: Herr Cantet, 2005 beschimpfte Sarkozy randalierende Jugendliche in den Banlieues als "Gesocks". Ein Jahr später beginnen Sie, einen Film über eine Schule mit "Problemschülern" zu drehen. Reagiert "Die Klasse" auf die offene Verachtung der französischen Upperclass gegenüber Migranten?
Laurent Cantet: Ja. Ich wollte auf die systematische Stigmatisierung antworten. Allerdings nicht nur auf die der Migranten. Sondern auf die Stigmatisierung der Jugend insgesamt. Zumindest der Jugend, die Angst macht.
Was interessiert Sie an "beängstigenden" Jugendlichen?
Ich hatte Lust, ihre Energie zu zeigen. Eine Energie, die schon aus Gewohnheit zurückgewiesen wird, dabei kann sie großartig sein.
Ist deshalb der harte Kampf der Schüler und ihres Klassenlehrers um Worte und mit Worten zum zentralen Motiv Ihres Films geworden?
Kampf ist nun mal eine der zentralen Lebenslagen von Jugendlichen. Als junger Mensch versucht man oft, sich in Opposition zu den Erwachsenen, vor allen zu den Lehrern und den Eltern, zu definieren. Und je weniger geliebt sich die Kids fühlen, desto kampfeslustiger werden sie. Nach dem Motto: Wenn ihr uns nicht wollt, dann könnt ihr uns mal, dann wollen wir euch auch nicht.
"Die Klasse" spielt im 20. Arrondissement von Paris, einem Bezirk, der mit Berlin-Neukölln vergleichbar ist. Warum dort?
Ich wollte Jugendlichen eine Stimme geben, die normalerweise wenig Worte haben und wenig gehört werden. Die am härtesten mit Zurückweisung konfrontiert werden.
In Ihrem Film kämpfen die Jugendlichen unaufhörlich. Es gibt keine Pause. Freundschaft und Liebe - das findet im Grunde nicht statt. Woher rührt diese Unerbittlichkeit?
Weil das die Situation ist.
Aber es gibt doch auch für Jugendliche in schwierigen Situationen so etwas wie Momente der Ruhe.
Klar. Aber mich haben die Momente interessiert, in der Intelligenz im Spiel ist.
Und die findet sich nur in der Konfrontation?
Nein, wahrscheinlich nicht. Aber diese Kids geben ihr vor allem in Konfliktsituationen Ausdruck. Trotzdem gibt es ja auch Momente, in denen die Schüler sich gegenseitig beistehen.
Aber auch die sind äußerst prekär. Das Besondere, manchmal auch schwer Aushaltbare an Ihrem Film ist ja diese enorme Zerbrechlichkeit von jeder noch so vorsichtigen Form von Solidarität.
Stimmt. So gesehen ist diese Schule eine Metapher für unsere Gesellschaft. Die ist ja auch ein Topf, in dem es permanent brodelt.
Warum war es Ihnen wichtig, mit Laiendarstellern zu arbeiten?
Wenn man mit Laien arbeitet, passiert immer etwas Unerwartetes. Meine Aufgabe als Regisseur ist es dann, aus ihrer Spontaneität und Unberechenbarkeit das Beste herauszuholen. Es geht nicht darum, etwas zu inszenieren, sondern darum, etwas in den Personen zu entdecken. Zudem mag ich das Unperfekte. Es verleiht dem Film etwas Realistisches und Unverwechselbares. Es gibt ihm das Fleisch.
Womit haben die Schüler und Schülerinnen Sie am meisten überrascht?
Mit ihrer ungeheueren Fähigkeit, sich zu konzentrieren.
Das entspricht nicht unbedingt dem Klischee vom Hauptschüler.
Eben. Doch die Kids blieben über sechs, sieben Stunden dabei und haben immer wieder die gleiche Szene wiederholt, um meinen Erwartungen möglichst nahezukommen.
Nach welchen Kriterien haben Sie die Schüler ausgewählt?
Jeder durfte mitmachen. Von etwa 50 interessierten Schülern sind am Ende 25 dabeigeblieben.
Und was passierte mit der anderen Hälfte?
Die hatte keine Lust, wollte lieber Fußball spielen oder sonst was machen. Was ich gut verstehen kann.
Spielen die Jugendlichen sich selbst oder eine Rolle?
Eine Rolle. Die aber haben sie sich meistens selbst ausgesucht und ihre Erfahrungen mitgebracht. Besonders schlechte Schüler sind es gewohnt, zu schauspielern. Sie machen das jeden Tag in der Schule.
Dann waren die Schüler aus Belleville gut aufs Filmemachen vorbereitet?
Ja. Die wissen ganz genau, wie sie die Erwartungen des Lehrers bedienen müssen. Zum Beispiel der eine Junge, der mitten im Schuljahr neu in die Klasse kommt. Er ist der netteste, sanfteste Junge der Welt. Aber in der Rolle des hyperaggressiven Jungen war er absolut glaubwürdig.
Ihr Film setzt im Lehrerzimmer nach den Sommerferien ein. Ein Lehrer geht die Namen einer Klasse durch und sagt: nett, böse, nett, böse …
Ja. Die Schule ist par excellence ein Ort der Zuschreibung. Das wollte ich zeigen.
Und die Lehrer?
Auch sie sind alles Laien. Mit ihnen haben wir viel diskutiert. Etwa über die eine längere Szene, in der sie besprechen, welches Strafsystem die Schüler am effektivsten disziplinieren könnte. Die Dialoge setzen sich aus ihren Sätzen zusammen oder aus Statements, die sie bei Kollegen gehört haben.
Speziell in dieser Szene ist die Hilflosigkeit der Lehrer fast schmerzhaft. Warum um Gottes willen arbeiten sie nicht mit Psychologen zusammen? Oder lassen sich wenigstens ab und an beraten?
Das System sieht das nicht vor. Die wenigen Schulpsychologen kümmern sich um die Kinder, nicht um die Lehrer. Und genau die Einsamkeit der Lehrer hat mich interessiert.
François, der Klassenlehrer und die erwachsene Hauptfigur des Films, wirkt tatsächlich total alleingelassen in seinem Versuch, den autoritär erzogenen Kindern auf eine antiautoritäre Weise zu begegnen.
Nur ein kleiner Aussetzer, und schon ist alles vorbei. Die Kids erwarten strikt, dass der Lehrer seinen Job macht. Schwächen gestehen sie ihm nicht zu. Auch mit seinen Kollegen kann er nicht über seine Fehler oder Probleme mit der Klasse sprechen. Denn keiner aus dem Kollegium möchte zugeben, wie überfordert sie sind.
Haben Sie den Film den Protagonisten gezeigt?
Natürlich. Noch bevor wir nach Cannes gingen, haben wir zu einer Vorführung eingeladen.
Haben die Schüler begriffen, wie gnadenlos sie sich gegenseitig bekriegen?
Ja. Die Szene, in der der Schüler Souleymane der Schule verwiesen wird, hat sie sehr betroffen gemacht. Und die Szene, in der die Lehrer im Lehrerzimmer untereinander diskutieren, hat viele Diskussionen ausgelöst. Damit hatten sie nicht gerechnet. Für sie verkörpern Lehrer vor allem eine Funktion. Als Menschen, die sich täuschen können und Fehler machen, hatten sie sie bislang nicht gesehen. Daher hat diese Szene ihr Bild vom Lehrer komplett über den Haufen geworfen. Man weiß natürlich nicht, wie lange so was hält: Aber wenn der Film den Schülern ein anderes Bild von ihren Lehrern vermittelt, ist das schon mal gar nicht schlecht.
Ihr Film spielt zu 90 Prozent in Innenräumen. Warum?
Wir wollten der Perspektive der Lehrer auf die Schüler folgen. Auf dem Schulhof, wenn die Schüler sich unbeobachtet wissen, verhalten sie sich ganz anders. Wir wollten aber die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler in den Mittelpunkt stellen. Als François nach seinem Fehltritt in der Klasse den SchülerInnen auf den Schulhof hinaus folgt, ist das für ihn ein heikler Moment. Denn jetzt befindet er sich auf dem Terrain der Schüler. Hier gelten andere Regeln als im Klassenraum.
Am Ende spielen die Lehrer und die Jungs zusammen Fußball. Das ist die zweite Szene auf dem Schulhof.
Ja. Auch hier lassen sich die Lehrer auf das Terrain der Jungs ein. Das ist die umgekehrte Situation. Wir haben sie bewusst ans Ende des Films gesetzt.
War es schwierig, das Geld für den Film zusammenzubekommen?
Nein. Ausnahmsweise nicht.
Wie kommts? Die Produktionsbedingungen für das experimentelle Kino haben sich doch extrem verschärft in den letzten Jahren.
Allerdings. Aber die Schule ist in Frankreich im Moment ein sehr wichtiges Thema. Außerdem war der Roman, auf dem der Film basiert, ein großer Erfolg.
Was hat die Verleihung der Goldenen Palme in Cannes mit Ihnen gemacht?
Zunächst war ich natürlich sehr stolz und sehr bewegt. Das ist ja klar. Außerdem hat es mich darin bestätigt, dass ich mit "Die Klasse" eine Methode gefunden habe, Filme zu machen, die mir entspricht. So, genau so, will ich Filme machen. Und ab jetzt werde ich es leichter haben, dafür die entsprechenden Gelder zu bekommen.
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