Regionalwahlen in Großbritannien: Die grüne Lady
Somers Town ist eine der multikulturellsten Arbeitersiedlungen Londons. Natalie Bennett, Grünenpolitikerin, findet hier ihre Themen.
Somers Town, so getauft nach Charles Cocks, dem Ersten Baron Somers (1725–1806), dem dieses Land einst gehörte, ist eine der ältesten sozialen Wohnsiedlungen Londons. Charles Dickens hat kurze Zeit hier gelebt. Ein einstiger Slum, der heute zum Londoner Innenstadtbezirk Camden gehört und an dessen südlichen Ende sich der Neubau der britischen Nationalbibliothek British Library erhebt.
Etwa 13.000 Menschen leben in Somers Town, viele von ihnen in den aus Ziegelstein gebauten Sozialwohnungen. Ein Viertel der Bevölkerung sind Muslime. 15 Prozent stammen aus Bangladesch. Im Café des Gemeindezentrums gibt es deswegen neben den obligatorischen Sandwichs mit Speck auch solche mit Halalhühnchen. An der Wand hängen Flugblätter mit Titeln wie „Bäume statt Türme!“, die auf die Verdrängung langjähriger Bewohner durch Luxussanierung hinweisen. Daneben befindet sich das letzte Rundschreiben des lokalen Polizeibüros mit einer Gruppe lächelnder Beamten.
Natalie Bennett trägt einen grünen Mantel und grüne Ohrringe zu ihren blonden Haaren. Sie tritt selbstsicher und freundlich auf. „Es ist ein schöner Zufall“, sagt sie, „dass auch Mary Wollstonecraft hier gelebt hat.“ Die britische Philosophin aus dem 18. Jahrhundert, Frauenrechtlerin und Mutter von Mary Shelly, die mit „Frankenstein oder der moderne Prometheus“ in die Geschichte einging.
Fahrradfahrende Frau
Großbritannien wählt: Am5. Mai werden die Regionalparlamente in Schottland, Wales und Nordirland, der Oberbürgermeister von London und die Kommunalparlamente in den meisten städtischen Regionen Englands neu gewählt – ein erster Test sowohl für Premierminister David Cameron nach seinem Sieg bei den Parlamentswahlen 2015 als auch für den neuen Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn.
Grüne Partei: Die britischen Grünen, die vor allem in Englands Universitätsstädten stark sind, hoffen auf Zugewinne. In Wales liegen sie in den Umfragen bei 4 %, in Schottland bei 11 %, in London bei 7 %. (d.j.)
Bennett versteht sich gleichfalls als Feministin. Als sie noch ein kleines Mädchen war, hatte ihr jemand erklärt, „Fahrradfahren sei nichts für Ladys“. Diesen Unsinn hat sie nicht vergessen, erzählt sie, und so wurde sie zur Feministin und zur Grünenpolitikerin, die Frauenrechte und Fahrradfahren verteidigt.
1966 im australischen Sydney geboren, arbeitete sich die Tochter zweier Teenagereltern stetig nach oben. Sie erhielt ein Schulstipendium, jobbte auf einer Ranch und begann Kommunikationswissenschaften zu studieren. In Thailand arbeitete sie ehrenamtlich für ein Frauenprojekt und schrieb bald über Frauenthemen. Später ging sie nach London, volontierte im British Museum und arbeitete als Redakteurin des Guardian Weekly. Doch am Ende entschied sie sich, in der Politik mitzumischen. Als die damalige Grünen-Vorsitzende Caroline Lucas bei den Wahlen 2010 überraschend den Wahlkreis Brighton-Pavilion holte – sie ist bis heute die einzige grüne Unterhausabgeordnete – und die Parteiführung abgab, kam ihre Chance. Seit vier Jahren bestimmt nun Bennett die Linie der Partei.
Neben Ökothemen setzt sie im Wahlkampf der Grünen für Wales und Schottland auf Sozialpolitik. Die meisten grünen Bewegungen täten dies, meint Bennett, weltweit. Als logische Folge der leeren Versprechungen der letzten Jahrzehnte, die sich als neoliberale Ideologie entpuppt hätten. Diese Erkenntnis sei der Grund für den wachsenden Erfolg grüner Parteien und von Systemkritikern wie dem Labour-Chef Jeremy Corbyn oder dem linken Demokraten Bernie Sanders in den USA. „Wir haben mit unserer Politik ein Umdenken bewirkt“, sagt Bennett, „in Städten wie Sheffield, Liverpool, Lancaster, Solihull und natürlich Brighton sind wir stark vertreten.“
Bahnarbeiter wohnten hier
Draußen vor dem Café zeigt Bennett die hundert Jahre alten Wohnungen der ehemaligen Bahnarbeiter, solide feste Bauten, die lange halten sollten. Daneben Neubauten aus den 60er und 70er Jahren. Damals kam es erneut zur Krise in Somers Town, erzählt sie, weil die nötigen Investitionen für die Sanierung ausblieben; die Gegend verfiel und wurde zum städtischen Rotlichtviertel.
Premierminister David Cameron plant nun, diese Sozialwohnungen zu verkaufen, denn sie befinden sich in der sogenannten hochwertigen Zone Londons. Für das Geld dieser auf dem freien Markt verkauften Wohnungen sollen dann am Stadtrand, dort wo es noch billig ist, neue Sozialwohnungen entstehen. Es wäre das Ende von Somers Town, wie man es kennt. Das Recht, in einer Sozialwohnung zu leben, soll nicht mehr lebenslang gelten, sondern nach zwei bis fünf Jahren nach Einkommen überprüft werden. Menschen mit einem Jahreseinkommen von über 40.000 Pfund (50.000 Euro) sollen Marktmieten für diese Wohnung zahlen – 1.600 bis 3.000 Pfund pro Monat für eine Zweizimmerwohnung. Wer sich das leisten kann, darf wohnen bleiben – oder gar die Wohnungen kaufen. „Wir werden versuchen, das zu verhindern“, sagt Bennett.
Drei Fernbahnhöfe liegen in unmittelbarer Nähe von Somers Town: St. Pancras, Euston sowie Kings Cross. Viele Eisenbahner, die hier lebten, arbeiteten in den Zugdepots auf einem der großen angrenzenden Gelände. Jahrzehntelang lagen sie brach, bevor das Crick Institute dort ein Forschungslabor bauen ließ. Der riesige Bau zeigt der Siedlung den Rücken. Lediglich ein paar Lehrstellen seien dabei für die Gegend abgefallen, erzählt Bennett. Ein verlorener Kampf für die Siedlung, findet sie, denn die Nachbarschaft brauche vor allem Wohnungen. Drei Minuten vom Café des Gemeindezentrums entfernt befindet sich ein kleiner Park. Doch auch hier droht Verdrängung, ein Teil der Grünfläche soll einem Luxuswohnturm weichen.
Luxuswohntürme und nur eine Oberschule
Ein paar hundert Meter weiter deutet Bennett auf eine Oberschule. Die Oberschule in Somers Town sei sowohl ein Glanzstück als auch eine Tragödie. Zwar wurde die alte Schule zu Labour-Zeiten renoviert, sei dabei jedoch in einen Massenbetrieb umfunktioniert worden. Im Süden des Stadtbezirks, berichtet Bennett, kämpften Einwohner seit über 20 Jahren für die Gründung einer neuen Oberschule. „Kleinere Schulen haben mehr Erfolg, weil sie Nachbarschaften zusammenhalten. Bisher wurden diese Forderungen ignoriert, das bedeutet, dass die Teenager aus Südcamden in 49 verschiedene Schulen der Großstadt London pilgern müssen, die alle weit weg liegen.“
Neben der existierenden Oberschule soll auf einer Grünfläche, wo sich heute noch ein Kindergarten und eine Jugendeinrichtung befinden, ebenfalls ein hoher Wohnturm entstehen. „Das Jugendzentrum leidet jetzt schon unter fehlenden Subventionen“, sagt die Grünen-Politikerin. Vor 20 Jahren gab es hier gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Jugendgangs, heute hält das Jugendzentrum die Teenager von der Straße fern und gibt ihnen Erholungsraum in einer ohnehin ungesunden Gegend.
Immens hohe Luftverschmutzung
Damit spricht Bennett ein zentrales Thema der Grünen in der Londoner Stadtversammlung an. Dieses Jahr – wie auch in den Vorjahren – erreichten viele Straßen in London bereits eine Woche nach Jahresbeginn die maximal erlaubten Jahreswerte für Luftverschmutzung. Immer wieder stritten die Grünen mit Oberbürgermeister Boris Johnson und schafften es, nahezu alle Ratsmitglieder, sogar einige Konservative, hinter sich zu bringen, bis Johnson, der das Thema immer kleingeredet hatte, im letzten Jahr behauptete, Luftverschmutzung sei ihm ein wichtiges Thema. Inzwischen hat auch das Oberste Gericht aufgrund einer Klage der NGO Client Earth die britische Regierung dazu aufgefordert, sofort Maßnahmen wegen der andauernden illegalen und ungenügend regulierten Luftverschmutzung zu ergreifen.
Bennett findet, nicht Autos seien das Problem, sondern zu volle Straßen und zu wenige Alternativen. Ihrer Meinung nach müsste viel mehr in öffentliche Verkehrsmittel investiert werden, ihre Benutzung billiger sein. Aber nicht nur die Autofahrer kommen bei Bennett relativ gut weg, auch Arme, die keine Mülltrennung machen, finden ihr Verständnis. „Man kann nicht von Menschen verlangen, ihr Verhalten zu verändern, die täglich damit kämpfen, genug Essen auf dem Tisch zu haben.“ Sozial- statt Ökopolitik.
Am Ende des Rundgangs durch Somers Town zeigt Bennett ihr Lieblingscafé „Albertini“. Ein für die Straße überraschend elegantes Café-Restaurant mit italienischem Flair, das zwei Brüder betreiben. Sie kochen selber, die Angestellten kennen und grüßen die Stammgäste der Gegend. Bennett wünscht sich, dass solche Orte erhalten bleiben können. Dass nicht etwa eine Kette wie Starbucks diesen Platz einnimmt.
Ein Labourbezirk
Trotz Bennetts Engagement ist Somers Town ein Labour-Bezirk geblieben. Stört sie das? „Nein!“, antwortet die Grüne, „ich kann damit leben. Es geht um die gemeinsame Zukunft und um eine Wahlrechtsreform, damit Parteien wie unsere mehr Gewicht erhalten. Da die Torys und Labour in große interne Streitereien verwickelt sind, gibt es jetzt durchaus Chancen für die Grünen.“
Was ist dann mit den großen Fragen der britischen Politik, wie dem EU-Referendum und dem Thema der Immigration? Wie wirkt sich das auf die Kommunal- und Regionalwahlen aus? „Wir befürworten den Verbleib in der EU“, antwortet Bennett. „Gerade unsere vielen jungen Mitglieder sind dafür.“ Es müsste jedoch noch viel weiter in Richtung eines sozial gerechteren Europa gehen, wünscht sie sich, statt „nur in die Richtung der Vorstellungen der Geschäftswelt“.
Was die Migrationspolitik angeht, so hört sie von vielen Engländern weniger Beschwerden über Immigranten als über niedrige Löhne, übervolle soziale Einrichtungen und Schulen. „Das ist kein Problem der Einwanderung. Die lokalen Behörden versagen darin, adäquate Einrichtungen zu schaffen, die proportional dem Wachstum der Bevölkerung nachkommen“, erklärt sie und entschuldigt sich. „Ich habe gleich ein Meeting mit frisch ausgebildeten Ärzten.“ Auch die sind in einen Streit mit der Regierung über die Arbeitsbedingungen im nationalen Gesundheitssystem NHS verwickelt.
Bennett empfiehlt, mal an einem Freitag vorbeizuschauen, da gäbe es noch einen echten Markttag, ganz wie es das grüne Parteibuch mag. Dann verschwindet sie im Straßenbild von Somers Town, wo die soziale Geschichte Londons auf die sozialen Spannungen der Gegenwart trifft. Im Hintergrund ragt die neue Zentrale von Unison auf, der zweitgrößten britischen Gewerkschaft; auf der Chalton Street selbst befindet sich in einem alten Haus die Zentrale der oft rebellischen Verkehrsmittelgewerkschaft RMT, und direkt gegenüber hat eine der wichtigsten Organisationen, die Notunterkünfte für junge Obdachlose betreibt, ihren Sitz.
Dort sollten sich vor Kurzem alle Londoner OberbürgermeisterkandidatInnen zu einer Podiumsdikussion einfinden. Einzig die grüne Amtsanwärterin Sian Berry stellte sich persönlich den Fragen. Den anderen Parteien fehlt wohl der Draht zu Somers Town. Das lässt sich von Natalie Bennett nicht sagen.
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