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Reformer vereint vor dem Nationalitätenplenum

■ Historiker Afanasjew attackiert auf Reformertreffen Gorbatschow, Partei und Regierung: „Die Partei hat das Land ins Nirgendwo geführt“ / Oberster Sowjet Aserbaidschans fordert Kontrolle über Berg-Karabach / Angespannte Versorgungslage in der Region

Moskau (dpa/afp) - Nur wenige Tage vor dem mehrfach verschobenen ZK-Plenum zu Nationalitätenproblemen hat der liberale sowjetische Historiker und Volksdeputierte Jurij Afanasjew die Parteiführung und Regierung der UdSSR scharf kritisiert. „Konservative Kräfte, darunter vor allem das Politbüro des ZK der KPdSU und das Präsidium des Obersten Sowjet der UdSSR, unternehmen eine massierte Offensive gegen Anhänger der radikalen Perestroika“, zitierte das Parteiorgan 'Prawda‘ am Sonntag Afanasjew.

Der Repräsentant der interregionalen Gruppe reformorientierter Volksdeputierter eröffnete am Samstag eine dreitägige landesweite Konferenz der demokratischen Bewegungen und informellen Gruppen in der Sowjetunion in Leningrad, wo VertreterInnen von rund 50 Volksfronten und anderen Gruppen Erfahrungen zur Nationalitätenproblematik austauschen wollen. „Die Partei hat in 70 Jahren das Land ins Nirgendwo geführt. Heute hat das Politbüro keine Vorstellungen über Autorität und das sogenannte Ansehen der Partei“, erklärte Afanasjew. Die Partei müsse ein neues Programm vorlegen, um neues Ansehen zu gewinnen.

Der ersten Etappe der Perestroika, die er als „Revolution von Oben“ bezeichnete, seien in einer zweiten Periode zahlreiche Initiativen der demokratischen Bewegungen gefolgt, gegen die der kommunistische Parteiapparat machtlos gewesen sei. Derzeit sehe sich die Perestroika in der dritten Phase einem massiven Angriff der konservativen Kräfte gegenüber. Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow verhalte sich währenddessen wie ein „verwirrter Beobachter“, erklärte Afanasjew weiter. „Das Politbüro und Gorbatschow sind unfähig, die nationalistischen Stimmen zu hören und sie als etwas anderes als negative und feindliche Phänomene anzusehen“, sagte Historiker. Er kritisierte die jüngste Erklärung des Zentralkomitees zur Situation in den baltischen Republiken, in der es sich gegen die von den Volksfronten Estlands, Lettlands und Litauens vorgebrachten Forderungen nach Unabhängigkeit stellte. Außerdem wandte er sich gegen ein Papier der KPdSU über zwischenethnische Beziehungen, das am Dienstag von Zentralkomitee diskutiert werden soll. „Die beiden Texte sind durchtränkt von einem imperialistischen Geist und machen deutlich, daß die Parteiführung die UdSSR nicht in einen souveränen Bundesstaat verwandeln möchte“, fügte Afanasjew hinzu. In dieser Situation könne nur eine Vereinigung aller demokratischen Kräfte der Gesellschaft im Kongreß und eine Zusammenarbeit der Reformer Osteuropas, zu einer Entwicklung der Demokratie in der Sowjetunion führen, sagte er abschließend.

Unterdessen forderte der Oberste Sowjet Aserbaidschans in Baku auf einer außerordentlichen Sitzung die Abberufung der von Moskau eingesetzten Sonderverwaltung des vorher Aserbaidschan unterstehenden, mehrheitlich von Armeniern bewohnten autonomen Gebiets Berg-Karabach und die „Wiedereinsetzung der vollen Souveränität“ Bakus in der Region. Nach einem Bericht der Tageszeitung 'Sozialistitscheskaja Industrija‘ vom Sonntag wurde die Entschließung zu Karabach nach dem Ende der Tagung am Samstag nachts „von Tausenden von Menschen begeistert gefeiert“. Wie die Zeitung weiter berichtete, seien an der Arbeit des obersten Machtorgans der Sowjetrepublik erstmals auch Vertreter der noch nicht offiziell zugelassenen Volksfront Aserbaidschans beteiligt worden.

Wie 'tass‘ am Sonntag meldete, begann am Vortag auch eine Dringlichkeitssitzung des Obersten Sowjet Armeniens zur Situation in Berg-Karabach. Die Lage in dem umstrittenen Gebiet hat sich nach einem Bericht der Agentur aus der Hauptstadt Stepanakert dramatisch verschärft. Durch die andauernde Blockade sei inzwischen die Treibstoff- und Lebensmittelversorgung gefährdet.

Für Dienstag ist die Sitzung des Zentralkomitees zur Nationalitätenfrage anberaumt. BeobachterInnen rechnen mit einem Zusammenstoß zwischen Gorbatschow und den Reformgegner.

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