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Reden kann jeder

■ Kultur in der Klinik

Tolle Tage“ versprechen Ärztekammer Berlin und Tempodrom als Veranstalter eines „ZeltMusikFestivals“, das vom 6. bis zum 12.9. im Park der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik stattfindet und die „soziale und kulturelle Isolation durchbrechen“ soll, „in der sich besonders die Patienten auf den Stationen für Alterskranke, chronisch Kranke und in den psychiatrischen Abteilungen befinden“.

Ideell unterstützen zwar Kultur-, Sozial- und Gesundheitssenat das Projekt; rüberwachsen ließen sie jedoch keinen Pfennig. Reden kann jeder. Unter dezentraler Kulturarbeit versteht man auf asozialdemokratisch -alternativer Seite mehr die Förderung verschiedener Strickkurse und Sonntagsmalereien als die materielle Unterstützung von Projekten, die tatsächlich am Rande, also beispielsweise mit oder für psychisch Kranke, arbeiten.

512 Millionen Mark beträgt der Westberliner Kulturetat. Für Kultur in Krankenhäusern ist in dieser Summe kein Pfennig enthalten. In Sachen Krankenhauskultur finanziert nur die „Abteilung für soziale Künstlerförderung“ im „Landesamt für zentrale soziale Aufgaben“ ab und zu mal eine Diadichter oder Unterhaltungsmusikertour. Hier lohnt ein vergleichender Blick nach „drüben“: Jede größere DDR-Klinik hat eine Kulturleiterin und einen festen Kulturetat. Er beträgt für Krankenhäuser 15 Mark, für psychiatrische Kliniken 30 Mark pro Bett und Jahr. Was im Westen jenseits oder diesseits der obligatorischen Advents- und Weihnachtsfeiern geschieht, geschieht dank der Eigeninitiative namenloser Pfleger und Schwestern oder, eben hier, bei den Tollen Tagen über ein ABM-Programm, mit Hilfe der „begeisterten Unterstützung“ durch Irene Mössinger (Tempodrom) und der auftretenden KünstlerInnen, die auf ihre Honorare verzichten. Durch enge Kooperation mit der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik konnte der öffentliche Klinikpark als Veranstaltungsort gewählt werden.

Dort verläuft man sich leicht und hat Schwierigkeiten, die Cafeteria zu finden, in der die Pressekonferenz stattfinden soll. Von den 800 PatientInnen sind einige anwesend. Ab und zu kichern sie, wenn Peter Zimmermann, Leiter der RIAS -Jugenorchesters, das zusammen mit dem Freiburger Barockensemble das Eröffnungskonzert bestreitet, darauf beharrt, daß Klassik „nicht öde und langweilig“ sei und nicht in „Kulturpalästen“ stattfinden müsse, oder freuen sich, wenn „Georgia“ vom Scheinbar-Variete für den samstäglichen „Galaabend“ eine „bunte Mischung“ und „nicht sehr kopflastige Abwechslungen“ ankündigt. Neben einem täglich wechselnden Programm aus Kabarett, Performance, Chorkonzert, Tanzmusik und Kindervorstellungen wird es auch zwei Workshops für PatientInnen und ZuschauerInnen geben: den einen bestreitet Stella Chiweshe aus Zimbabwe, einer der diesjährigen Höhepunkte der Heimatklänge, am Sonntag ab 15 Uhr 30 quasi als Vorprogramm zu ihrem Konzert; der andere findet unter Leitung von Nina Goede und dem Ensemble Opera Brut am Montag statt: „Sie wird andeuten, was man alles mit seiner Stimme machen kann, ohne im eigentlichen Sinn zu sprechen oder zu singen, (...) und wird jedem, der sich darauf einläßt, die Stimme öffnen.“ (Info).

Die Ärztekammer verschickte unter dem Titel Akademie für ärztliche Fortbildung Einladungen an alle praktizierenden Ärzte Berlins; eine Patientin will jedoch am liebsten „mal die beschissenen Nachbarn einladen, die die Kranken nicht leiden können“. Später beklagt sie sich, daß die Tabletts mit den schönen Frühstückshappen abgeräumt wurden, sobald die Pressekonferenzteilnehmer gegangen waren. Außerdem sei es eine Unverschämtheit, daß die Cafeteria schon um 17 Uhr schließe: „Wo sollen wir denn dann hin?“ „Gleich kriegt sie wieder ihren Schub“, meint einer und schimpft: Wenn sie so weitermache, werde sie rausgeschmissen. Sie antwortet im gemütlichsten Berlinerisch: „Wat denn, wat denn. Noch sitz ick hier.“

Detlef Kuhlbrodt

Tolle Tage im Park der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, Oranienburger Straße 285, Berlin 26. Termine im Programmteil.

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