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■ GastkommentarRechtsgut freie Wahl

Die Verfassunggebende deutsche Nationalversammlung nahm am 21. 11. 1919 die Begründung zu einem Straftilgungsgesetz zur Kenntnis, in der die Staatsorgane dazu angehalten werden, „bei der Bewertung von Vorstrafen mit der nötigen Zurückhaltung zu verfahren und die Tatsache einer Bestrafung nicht ohne Not ans Licht zu ziehen“ und „die behördlichen Aufzeichnungen, die über erfolgte Verurteilungen im öffentlichen Interesse geführt werden müssen, ... soweit zu beschränken, als es mit den Zwecken, denen die Aufzeichnungen dienen, noch verträglich ist.“ Das moderne System des Strafregisters war damit begründet – mit angemessenen Tilgungsfristen und strenger Zweckbindung als Grundprinzipien. Es dient einer gerechten Bestrafung des Mehrfachtäters, aber auch der Rehabilitation des Gestrauchelten.

Schon immer erregten die inzwischen im Bundeszentralregister am Ufer des Landwehrkanals zentral gespeicherten Daten neben dem Interesse der Strafverfolgungsbehörden dasjenige von Verwaltungsbehörden, die glauben, zur Erledigung ihrer hoheitlichen Aufgaben auf diese Daten zurückgreifen zu müssen. Die Ernennung zum Beamten, die Erteilung einer Gewerbeerlaubnis oder eines Führerscheins sind Beispiele hierfür. Das Bundeszentralregistergesetz nennt nur eine Schranke: Die Behörde benötigt die Daten für „eine bestimmte Person“ – Einzelabfrage ja, Datenabgleich nein.

Auch diese Schranke soll auf einem besonders heiklen Gebiet niedergerissen werden: Entsprechend einer Idee, die offensichtlich in unserem Nachbarland geboren und vor meinem Kollegen Dietmar Bleyl sorgsam verborgen wurde, will eine Gesetzesinitiative im Bundestag das Register zur Überprüfung des Wahlrechts nutzen. Es soll ermöglicht werden, die Führungszeugnisse oder die Negativauskünfte aller Bürger und Bürgerinnen der neuen Länder samt Berlin im wahlfähigen Alter an die Innenministerien weiterzuleiten – rund zwölf Millionen Datensätze. Ermittelt werden könnte dadurch nach ohnehin fragwürdigen Kriterien ein Anteil von (möglicherweise) nicht Wahlberechtigten, der weit unterhalb der Promillegrenze liegt. Flächendeckende Nutzung des Strafregisters einerseits und mögliche Erkenntnisse andererseits stehen in einem Mißverhältnis, das das Vorhaben zu einem Lehrbuchbeispiel für eine Verletzung des verfassungsrechtlichen Übermaßverbots machen würde. Daß es grob verfehlt ist, den Bürgern der ehemaligen DDR mit Mißtrauen gerade beim Wahlrecht zu begegnen, muß dabei noch nicht einmal berücksichtigt werden.

Angezeigt ist etwas völlig anderes: Die freie Wahl ist ein Rechtsgut, über das diese nach über 50 Jahren gerade erst wieder verfügen. Wenn man überhaupt in juristischer Akribie mögliche Wahlhindernisse verfolgen will, entspräche es dem Wert dieser Errungenschaft, die Bürger sich selbst zu ihrem Wahlrecht erklären zu lassen. Unsere Demokratie wird es aushalten, daß ihre Repräsentanten dann vielleicht von ein paar Personen gewählt sind, die sich dieses Recht mit falschen Angaben erschlichen haben. Hansjürgen Garstka, Berliner Datenschutzbeauftragter

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